Leitsatz (amtlich)
Hält das Tatgericht bei einem Radfahrer eine über 1,6 Promille liegende Blutalkoholkonzentration gegen gefestigte Rechtsprechung für kein unwiderlegliches Indiz der Fahrunsicherheit, so muss er dies im Urteil ausführlich begründen. Gegebenenfalls abweichende wissenschaftliche Erkenntnisse der experimentellen Alkoholforschung sind eingehend darzustellen und zu würdigen.
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 22.12.2016; Aktenzeichen (290 Cs) 3034 Js 10952/16 (156/16)) |
Tenor
Auf die Revision der Amtsanwaltschaft Berlin wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 22. Dezember 2016 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten vom Vorwurf der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr aus rechtlichen Gründen freigesprochen. Dabei ist es davon ausgegangen, dass der Angeklagte mit dem Fahrrad öffentliches Straßenland befahren hat und dabei so stark alkoholisiert war, dass eine "um 20.25 Uhr entnommene Blutprobe ... einen Mittelwert von immerhin 2,00 Promille Ethanol" ergeben hat (UA S. 2). Dieses Verhalten hat das Amtsgericht mit Blick auf den "Forschungsbericht des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft e. V.' Grenzwerte für absolute Fahruntüchtigkeit bei Radfahrern' von Daldrup, Hartung, Maatz u. a. vom August 2014" für straflos gehalten (UA S. 3). Der Strafrichter ist der Auffassung, die Studie "könnte nahelegen, dass die Rechtsprechung den Grenzwert von 1,6 Promille nach oben korrigieren müsste" (UA S. 4), weshalb eine Verurteilung nach § 316 StGB nicht in Betracht komme. Gegen den Freispruch wendet sich die Amtsanwaltschaft Berlin mit der Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.
1. Das angefochtene Urteil verfehlt die Voraussetzungen des § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO. Nach dieser Vorschrift muss das freisprechende Urteil ergeben, ob der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. Nach dieser Maßgabe muss das Urteil - wie im Fall des § 267 Abs. 1 StPO - den festgestellten Sachverhalt schildern, es sind also in einer geschlossenen Darstellung diejenigen Tatsachen zum objektiven Tatgeschehen festzustellen, die das Gericht für erwiesen hält (vgl. BGH NStZ 2012, 110; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 59. Aufl., § 267 Rn. 31 mwN).
Daran fehlt es hier. Den Urteilsfeststellungen ist schon nicht zu entnehmen, von welcher Blutalkoholkonzentration das Amtsgericht überhaupt ausgegangen ist. Zwar teilt das Urteil mit, dass die um 20.25 Uhr entnommene Blutprobe einen "Mittelwert von immerhin 2,00 Promille Ethanol" aufgewiesen habe. Es versäumt jedoch die entscheidende Feststellung, wie hoch die Blutalkoholkonzentration war, als der Angeklagte die vorgeworfene Tat beging. Das Urteil verschweigt auch die Tatzeit, so dass dem Senat eine eigene Rückrechnung selbst dann verwehrt wäre, wenn ihm der Zeitpunkt des Trinkendes mitgeteilt würde. Auch dies ist allerdings nicht der Fall.
2. Lediglich informatorisch teilt der Senat mit: Aus dem Gesamtzusammenhang des Urteils ergibt sich, dass der Strafrichter von einer über 1,6 Promille liegenden Tatzeit-Blutalkoholkonzentration ausgegangen ist. Warum er hierin trotz entgegenstehender gefestigter Rechtsprechung (vgl. BayObLG Blutalkohol 30, 254; OLG Celle NJW 1992, 2169; OLG Hamm NZV 1992, 198; OLG Karlsruhe NStZ-RR 1997, 356; OLG Zweibrücken NZV 1992, 372; Fischer, StGB 64. Aufl., § 316 StGB Rn. 27 mwN) keine Straftat gesehen hat, hätte eingehender Darstellung und Würdigung gegebenenfalls abweichender wissenschaftlicher Erkenntnisse bedurft. Die Ergebnisse statistischer Untersuchungen und der experimentellen Alkoholforschung wären in einer Gesamtbetrachtung zu würdigen und hieraus die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen Folgerungen zu ziehen gewesen (vgl. BGHSt 21, 157). Die "Verweisung" auf den "Forschungsbericht Nr. 28", der angeblich "Aktenbestandteil" sei (UA S. 4), verfehlt diese Anforderungen und auch die prozessualen Möglichkeiten des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO. Eine derart pauschale Verweisung ist schon durch den Grundsatz ausgeschlossen, dass ein Urteil aus sich heraus verständlich sein muss (vgl. BGHSt 30, 225; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO., § 267 Rn. 2 mwN). Und offensichtlich handelt es sich bei der in Bezug genommenen 56-seitigen Studie auch nicht um eine Abbildung, auf die nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen werden könnte.
3. Der Senat hebt daher das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache nach § 354 Abs. 2 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurück.
Fundstellen
Haufe-Index 10889629 |
NJW 2017, 9 |
NZV 2017, 587 |
BerlAnwBl 2017, 327 |
VRA 2017, 217 |
BA 2017, 261 |