Entscheidungsstichwort (Thema)

Unwirksame Prozesshandlung bei Nichteinhaltung der vorgeschriebenen elektronischen Form. Vertrauenswürdiger Herkunftsnachweis bei fehlender qualifizierter elektronischer Signatur. Kontrolle des Prüfprotokolls als Teil der anwaltlichen Sorgfaltspflichten. Bestätigung der qualifizierten elektronischen Signatur bei Versand des Dokuments an das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach. Keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die von den Gerichten von Amts wegen vorzunehmende Prüfung, ob ein fristgebundener Schriftsatz formgerecht i.S.d. § 46c Abs. 3 und 4 ArbGG eingereicht wurde, kann bei einem elektronisch übermittelten Dokument, das nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur (qeS) versehen ist, nur anhand des vertrauenswürdigen Herkunftsnachweises (VHN) vorgenommen werden (im Anschluss an BAG 5. Juni 2020 - 10 AZN 53/20 - Rn. 25 ff.).

2. Zu den anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schrifsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs per besonderem elektronischem Anwaltspostfach (beA) gehört es, das Prüfprotokoll darauf zu kontrollieren, ob die "Informationen zum Übermittlungsweg" ausweisen: "Sicherer Übermittlungsweg aus einem besonderen Anwaltspostfach".

3. Wird der fristgebundene Schriftsatz nicht über das beA versendet, sondern an das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 ERVV, gehört zu den anwaltlichen Sorgfaltspflichten die Kontrolle des Prüfprotokolls dahin, ob unter "Signaturprüfungen" betreffend den Rechtsanwalt im "Signaturniveau" ausgewiesen ist: "Qualifizierte elektronische Signatur".

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die zwingende Einreichung von Erklärungen in der elektronischen Form nach § 46g ArbGG betrifft die Frage ihrer Zulässigkeit. Die Einhaltung der vorgeschriebenen Form ist deshalb von Amts wegen zu prüfen. Wird die vorgeschriebene Form nicht eingehalten, ist die Prozesserklärung unwirksam und führt zur Unzulässigkeit eines Rechtsmittels.

2. Der Prozessbevollmächtigte einer Partei muss alles ihm Zumutbare tun und veranlassen, damit die Frist zur Einlegung oder Begründung eines Rechtsmittels gewahrt wird. In seiner eigenen Verantwortung liegt es, das Dokument gemäß den gesetzlichen Anforderungen entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur zu versehen oder die Einreichung auf einem sicheren Übermittlungsweg persönlich vorzunehmen. Kommt der Prozessbevollmächtigte diesen Pflichten nicht ausreichend nach, kann ihm keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden.

 

Normenkette

ArbGG § 46c Abs. 3-4, § 46g; ZPO § 85 Abs. 2; ERVV § 4; ZPO §§ 85, 233, 236 Abs. 2 S. 1, § 294

 

Verfahrensgang

ArbG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 16.02.2023; Aktenzeichen 9 Ca 147/22)

 

Tenor

  1. Der Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist wird zurückgewiesen.
  2. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Freiburg - Kammern Lörrach - vom 16. Februar 2023 - 9 Ca 147/22 - wird auf Kosten der Klägerin als unzulässig verworfen.
  3. Die Revisionsbeschwerde wird nicht zugelassen.
 

Gründe

A.

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Kündigungsschutzklage gegen eine Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen und verlangt die Erteilung eines Zwischenzeugnisses. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das am 16. Februar 2023 verkündete Urteil ist der Klägerin am 27. Februar 2023 zugestellt worden. Hiergegen hat sie am 20. März 2023 Berufung eingelegt. Die Frist zur Begründung der Berufung ist aufgrund eines entsprechenden Antrags am 26. April 2023 bis 30. Mai 2023 verlängert worden.

Am 30. Mai 2023 ist beim Berufungsgericht zweifach eine Berufungsbegründung eingegangen. Bzgl. der früher eingegangenen Berufungsbegründung - nachfolgend: erste Übersendung - weist der in der gerichtlichen elektronischen Akte abrufbare Prüfvermerk vom 30. Mai 2023, 17:37:20 Uhr, aus, dass Frau D., eine der Prozessbevollmächtigten der Klägerin - nachfolgend: die Rechtsanwältin -, als Absenderin die Nachricht per EGVP übersandt hat. Die "Angaben zu den Dokumenten" im Prüfvermerk geben wieder, dass die Berufungsbegründung nicht qualifiziert signiert ist:

Der vertrauenswürdige Herkunftsnachweis - nachfolgend 1. VHN - verneint einen "sicheren Übermittlungsweg":

Der maßgebliche Inhalt zum sicheren Übermittlungsweg wird hier vergrößert wiedergegeben:

Die Berufungsbegründung ist ein zweites Mal am selben Tag eingegangen - nachfolgend: zweite Übersendung -. Der Prüfvermerk vom 30. Mai 2023, 17:54:33 Uhr, weist dieselben Ergebnisse wie bei der ersten Übersendung aus: Versendung über EGVP und Fehlen einer qualifizierten elektronischen Signatur. Auch hier ist im vertrauenswürdigen Herkunftsnachweis - nachfolgend 2. VHN - "Sicherer Übermittlungsweg" verneint.

Die Klägerin wurde mit Verfügung vom 31. Mai 2023 vom Berufungsgericht darauf hingewiesen, die B...

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