Entscheidungsstichwort (Thema)
Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren. Mutwillige Rechtsverfolgung i.S.d. § 114 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 ZPO. Keine Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung bei Klagehäufung mit Kündigungsschutzantrag und Antrag auf Entfernung einer Abmahnung aus der Personalakte
Leitsatz (amtlich)
Eine nicht bemittelte Partei darf in der Regel im Rahmen eines Kündigungsprozesses auch einen Antrag auf Entfernung einer Abmahnung aus ihrer Personalakte stellen, ohne dass ihr dieses Prozessverhalten als mutwillig angelastet und ihr deshalb für diesen Antrag die Prozesskostenhilfe mit der Begründung versagt werden darf, sie hätte erst den Ausgang des Kündigungsprozesses abwarten müssen (Zustimmung zu LAG Baden-Württemberg 14.08.2023 - 4 Ta 7/23; Abweichung von LAG Hamm 22.10.2009 - 14 Ta 85/09 - und LAG Köln 14.11.2017 - 9 Ta 180 /17).
Leitsatz (redaktionell)
1. Der entscheidungserhebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren ist der Zeitpunkt der so genannten Bewilligungsreife.
2. Mutwillig ist eine Rechtsverfolgung in der Regel dann, wenn eine wirtschaftlich leistungsfähige, also nicht bedürftige Partei bei sachgerechter und vernünftiger Einschätzung der Prozesslage ihre Rechte nicht in gleicher Weise verfolgen würde oder sogar von der Rechtsverfolgung Abstand nehmen würde.
Normenkette
ZPO § 114; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; BGB §§ 242, 1004
Verfahrensgang
ArbG Ulm (Entscheidung vom 26.05.2023; Aktenzeichen 3 Ca 136/23) |
Tenor
I. Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Ulm vom 26.05.2023 - 3 Ca 136/23 - teilweise abgeändert.
- Dem Kläger wird ab 03.05.2023 auch für seine Anträge Nr. 3 und Nr. 4 vom 11.04.2023 Prozesskostenhilfe bewilligt.
- Im Umfang der Bewilligung wird dem Kläger Herr Rechtsanwalt A. R. als Prozessbevollmächtigter beigeordnet.
- Auf die Prozesskosten sind derzeit keine Zahlungen zu leisten.
II. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Tatbestand
A.
Der Kläger erstrebt mit seiner sofortigen Beschwerde die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine Klageanträge Nr. 3 und Nr. 4. Diese richten sich auf Entfernung zweier vom 16.01.2023 datierender Abmahnungen aus der Personalakte des Klägers, weil diese Abmahnungen in der Sache unberechtigt seien.
Für seine Klageanträge Nr. 1 und Nr. 2 hatte ihm das Arbeitsgericht mit Beschluss vom 26.05.2023 ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und ihm seinen Prozessbevollmächtigten beigeordnet. Klageantrag Nr. 1 richtete sich auf die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 29.03.2023, noch durch deren hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung vom 29.03.2023 zum nächstzulässigen Zeitpunkt beendet werde. Klageantrag Nr. 2 war eine allgemeine Feststellungsklage. Mit Klageantrag Nr. 5 erstrebte der Kläger ein qualifiziertes Zwischenzeugnis.
Die Klage nebst Prozesskostenhilfeantrag war der Beklagten am 18.04.2023 zugestellt worden. Der Rechtsstreit endete durch einen im Gütetermin vom 26.05.2023 geschlossenen Vergleich, nachdem die Beklagte von der ihr bis zum 09.06.2023 eingeräumten Widerrufsfrist keinen Gebrauch gemacht hatte.
Mit Beschluss vom 26.05.2023 gab das Arbeitsgericht dem Antrag des Klägers auf Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung teilweise statt, nämlich für die Bestandsschutzanträge Nr. 1 und Nr. 2. Für die übrigen drei Klageanträge wies es den Antrag wegen Mutwilligkeit zurück. Dieser Beschluss wurde dem Kläger am 13.06.2023 zugestellt. Am 07.07.2023 ging beim Arbeitsgericht die vorliegende sofortige Beschwerde des Klägers ein, mit der der Kläger ausschließlich die Versagung der Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung für seine Klageanträge Nr. 3 und Nr. 4 angreift. Das Arbeitsgericht half mit Beschluss vom 20.07.2023 der sofortigen Beschwerde nicht ab und legte sie dem Landesarbeitsgericht zur Entscheidung vor.
Von der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird gem. § 78 Satz 1 ArbGG, § 572 Abs. 4, § 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO in entsprechender Anwendung abgesehen, nachdem gegen den vorliegenden Beschluss kein Rechtsmittel möglich ist und § 313 a ZPO auf alle Arten von Beschlüssen Anwendung findet (Zöller/Feskorn ZPO 34. Aufl. 2022 § 329 ZPO Rn. 40).
Entscheidungsgründe
B.
Die zulässige sofortige Beschwerde des Klägers ist in vollem Umfang begründet.
I.
1. Die sofortige Beschwerde des Klägers ist gemäß § 11 a Abs. 1 ArbGG, § 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO statthaft und ist gemäß § 78 Satz 1 ArbGG, § 569 Abs. 1 und 2, § 127 Abs. 2 Satz 3 ZPO innerhalb der einmonatigen sofortigen Beschwerdefrist frist- und formgerecht erhoben worden.
2. Anderweitige Bedenken gegen die Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde bestehen nicht.
II.
Die sofortige Beschwerde des Klägers ist vollumfänglich begründet. Die vom Kläger mit seinen Klageanträgen Nr. 3 und Nr. 4 beabsichtigte Rechtsverfolgung bot hinreichende Aussicht auf Erfolg und war entgegen der Auffassung des ...