Entscheidungsstichwort (Thema)
Prozessuale Trennung zwischen Erkenntnisverfahren und Zwangsvollstreckungsverfahren. "Dolo agit"-Grundsatz als Ausdruck des Rechtsordnungsprinzips von Treu und Glauben. Materielle Prüfung der Erfolgsaussichten einer Berufung im Zwangsvollstreckungsverfahren nach dem "dolo agit"-Grundsatz. Bestand des fehlerhaften Urteils im Zwangsvollstreckungsverfahren bei nicht offensichtlicher Ergebnisfehlerhaftigkeit. Vollstreckung eines Weiterbeschäftigungstitels
Leitsatz (amtlich)
1. Es ist nicht Sinn und Zweck von § 62 Abs. 1 Sätze 2 und 3 ArbGG i.V.m. §§ 719 Abs. 1, 707 Abs. 1 ZPO, unter Heranziehung desselben Sachverhalts aus dem Erkenntnisverfahren erster Instanz einen dort im Wege der Interessenabwägung bejahten Anspruch auf Weiterbeschäftigung nunmehr in Abrede zu stellen. Die inhaltliche Überprüfung dieser Interessenabwägung bleibt vielmehr grundsätzlich dem Berufungsverfahren vorbehalten.
2. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht nur dann, wenn die Erfolgsaussichten der Berufung ganz offenkundig sind. Denn es wäre treuwidrig, eine ganz offenkundig nicht bestehende, aber dennoch titulierte Verpflichtung zwangsweise vorläufig durchzusetzen (dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est).
3. Ein "bloßes" offenkundiges Begründungsdefizit der erstinstanzlichen Entscheidung steht der offenkundigen Ergebnisfehlerhaftigkeit nicht gleich. Der dolo-agit-Einwand greift hier nicht. Auch ein offenkundig falsch oder defizitär begründetes erstinstanzliches Urteil kann nach der gesetzlichen Konzeption schnell und unkompliziert durchsetzbarer arbeitsgerichtlicher Titel taugliche Vollstreckungsgrundlage sein, solange die offenkundige Ergebnisfehlerhaftigkeit nicht feststeht.
4. Die Unbestimmtheit des Weiterbeschäftigungstitels (hier im Übrigen verneint) kann die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung gemäß § 62 Abs. 1 Sätze 2 und 3 ArbGG i.V.m. §§ 719 Abs. 1, 707 Abs. 1 ZPO nicht begründen.
Leitsatz (redaktionell)
Der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verbietet generell die Durchsetzung eines Anspruchs, wenn der Gläubiger das Erlangte umgehend wieder an den Schuldner herauszugeben hätte ("dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est"). Dies ist auch im Rahmen von § 62 Abs. 1 Sätze 2 und 3 ArbGG i.V.m. §§ 719 Abs. 1, 707 Abs. 1 ZPO zu beachten.
Normenkette
ArbGG § 62 Abs. 1 S. 3; ZPO § 719 Abs. 1, § 707 Abs. 1; BGB §§ 242, 626 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Mannheim (Entscheidung vom 02.11.2022; Aktenzeichen 10 Ca 125/22) |
Tenor
Der Antrag der Beklagten, die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Arbeitsgerichts Mannheim - Kammern Heidelberg - vom 2. November 2022 - 10 Ca 125/22 - vorläufig einzustellen, wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Die Beklagte begehrt die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem mit der Berufung angegriffenen Urteil in Bezug auf die Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung des Klägers.
Der Kläger war seit dem 1. April 2020 zu einem Bruttomonatsgehalt von 4.420,00 EUR bei der Beklagten als Inhouse SAP-Technical Consultant in H. beschäftigt. Am Standort der Beklagten in H. sind ständig mehr als zehn Mitarbeiter beschäftigt.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 11. April 2022 sowie 19. April 2022 jeweils fristlos hilfsweise ordentlich zum 31. Juli 2022.
Die Beklagte begründete die Kündigungen im Wesentlichen mit erheblichen Datenschutzverstößen des Klägers. Der Kläger habe unter Umgehung interner Sicherungen und Berechtigungssysteme in mindestens 124 Fällen Zugriff auf geschützte Personaldaten genommen. Er habe sich insbesondere Kenntnis von den Gehaltsdaten eines Kollegen verschafft, damit die Beklagte bei den eigenen Gehaltsverhandlungen konfrontiert und unter Druck gesetzt.
Die vom Kläger erhobene Kündigungsschutzklage hatte Erfolg. Das Arbeitsgericht stellte mit Urteil vom 2. November 2022 fest, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigungen nicht aufgelöst worden sei und verurteilte die Beklagte, den Kläger zu unveränderten Bedingungen als Inhouse SAP-Technical Consultant weiter zu beschäftigen. Es führte zur Begründung aus, die Beklagte habe den Kläger vorher abmahnen müssen. Es habe mit einer Verhaltensbesserung gerechnet werden können. Die weitere Zusammenarbeit sei der Beklagten zumutbar. Überwiegenden Gründe die einer Weiterbeschäftigung im Rahmen des Rechtsstreits entgegenstünden, seien nicht erkennbar.
Das Urteil wurde der Beklagten am 17. Januar 2023 zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 7. Februar 2022, am 8. Februar 2023 beim Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg eingegangen, hat die Beklagte Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 7. März 2023 begründet. Gleichzeitig beantragt sie, die Zwangsvollstreckung betreffend den titulierten Weiterbeschäftigungsanspruch im anhängigen Berufungsrechtsstreit vorläufig einzustellen.
Die Beklagte ist der Ansicht, die Vollstreckung aus dem erstinstanzlichen Urteil würde ihr einen nicht zu ersetzenden N...