Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen der Aussetzung der Anpassung der Betriebsrente entsprechend der Entwicklung der Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Sieht die betriebliche Versorgungsordnung vor, dass die Betriebsrente entsprechend der Entwicklung der gesetzlichen Renten anzupassen ist, es sei denn, Vorstand und Aufsichtsrat halten eine entsprechende Anpassung für "nicht vertretbar", so handelt es sich bei dem zu treffenden gemeinsamen Beschluss von Vorstand und Aufsichtsrat um ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht i.S. von § 315 BGB.

2. Die Entscheidung, die Betriebsrenten nicht entsprechend der Entwicklung der gesetzlichen Renten, sondern nur um 0,5% zu erhöhen, entspricht nicht billigem Ermessen, wenn die Arbeitgeberin, ein Lebensversicherungsunternehmen, nicht hinreichend zu ihrer wirtschaftlichen Situation vorgetragen, sondern lediglich allgemein auf das Marktumfeld in der Versicherungsbranche abgestellt hat.

 

Normenkette

BGB § 315

 

Verfahrensgang

ArbG Stuttgart (Entscheidung vom 04.05.2017; Aktenzeichen 10 Ca 1064/16)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 11.04.2019; Aktenzeichen 3 AZR 264/18)

 

Tenor

  1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 04.05.2017, Az. 10 Ca 1064/16, teilweise abgeändert und zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:

    1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin jeweils zum 1. eines Monats, beginnend mit dem 01.03.2017 über den Betrag von 677,43 € brutto hinaus weitere 36,42 € brutto zu zahlen und beginnend mit dem 01.07.2017 über den Betrag von 690,33 € brutto hinaus weitere 36,42 € zu zahlen.
    2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 126,12 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 10,51 € brutto seit 02.07.2015, 02.08.2015, 02.09.2015, 02.10.2015, 02.11.2015, 02.12.2015, 02.01.2016, 02.02.2016, 02.03.2016, 02.04.2016, 02.05.2016, 02.06.2016 zu zahlen.
    3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 291,36 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 36,42 € brutto seit 02.07.2016, 02.08.2016, 02.09.2016, 02.10.2016, 02.11.2016, 02.12.2016, 02.01.2017, 02.02.2017 zu zahlen.
  2. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
  3. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
  4. Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Anpassung der Betriebsrente der Klägerin zum 01.07.2015 und zum 01.07.2016. Wegen des Parteivortrages und der Sachanträge erster Instanz wird auf das Urteil des Arbeitsgerichts vom 04.05.2017 Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage hinsichtlich der Anpassung für das Jahr 2015 im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, die Regelung des § 6.4 TV über die betriebliche Versorgungsordnung (im Folgenden: VO 85) sei nicht zu beanstanden, sie sei insbesondere bestimmt genug. Die Tarifvertragsparteien hätten unbestimmte Rechtsbegriffe wie "vertretbar" verwenden dürfen. Es sei eindeutig, an welchen Anlass die Regelung anknüpfe, nämlich an der Anpassung der Betriebsrente aus Anlass der Erhöhung der gesetzlichen Renten. Es sei auch eindeutig, wer befugt sei, eine abweichende Anpassungsentscheidung vorzunehmen, nämlich Vorstand und Aufsichtsrat nach Anhörung der Betriebsratsgremien. In der Formulierung "nicht vertretbar halten", hat das Arbeitsgericht ein Leistungsbestimmungsrecht nach § 315 BGB gesehen. Ein Widerspruch zur Rechtsprechung zum Widerrufsvorbehalt liege in dieser Einräumung eines Leistungsbestimmungsrechts nicht. Die Regelung sei auch nicht wegen Verletzung von Mitbestimmungsrechte unzulässig, weil der Betriebsrat nicht zuständig sei für ausgeschiedene Mitarbeiter, die Anpassung der Betriebsrenten also nicht mitbestimmungspflichtig sei.

Die Beklagte habe ihrer Anhörungspflicht nach § 6.4 VO 85 genügt. Es sei unstreitig, dass die Betriebsräte und der Gesamtbetriebsrat vor der Entscheidung über die Anpassung angehört worden seien, insoweit sei die Stellungnahme der Betriebsratsgremien vorgelegt worden. Auch sei unproblematisch, dass die Entscheidung über die Anpassung für das Jahr 2015 erst im Oktober 2015 erfolgt sei. § 6 VO 85 enthalte keine zeitliche Vorgabe für die Entscheidung, weder eine rückwirkende noch eine vorherige Anpassung sei durch die Vorschrift ausgeschlossen. Eine betriebliche Übung zur vollen Rentenanpassung sei nicht gegeben, da die Klägerin erst seit 2011 Rentnerin sei und noch keine langjährige Übung entstanden sein könne. Das Arbeitsgericht hat den Begriff "vertretbar" dahin ausgelegt, dass dies "akzeptabel, tolerabel" bedeute. Die Entscheidung müsse auch Sicht der Betroffenen hinnehmbar und nachvollziehbar sein. Sie müsse auf gründlicher sachgerechter Abwägung der beidseitigen Interessen beruhen und entspreche damit weitgehend dem billigen Ermessen nach § 315 BGB. Dies sei nicht an § 16 BetrAVG zu messen, die gesetzlichen Grundregeln zur gesetzlichen Anpassungspflicht seien jedoch mit zu berücksichtigen. Das Arbeitsgericht hat angenommen, ...

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