Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung eines Prozessvergleichs. Verpflichtung zur Abrechnung und Auszahlung des Entgelts als Verzicht auf die Einrede aus § 615 Satz 2 BGB. Keine überhöhten Anforderungen an ein "böswilliges Unterlassen anderweitigen Verdienstes" im Annahmeverzug
Leitsatz (amtlich)
1. Die in einem Vergleich enthaltene Verpflichtung des Arbeitgebers zur ordnungsgemäßen Abrechnung und Auszahlung von Entgeltansprüchen kann im Einzelfall dahin auszulegen sein, dass die Anwendung von § 615 Satz 2 letzter Fall BGB bzw. § 11 Nr. 2 KSchG (Anrechnung böswillig unterlassenen anderweitigen Erwerbs/Verdienstes) ausgeschlossen ist. Eine solche Auslegung kann sich beispielsweise aus der Vorgeschichte des Vergleichs (Ablauf und Inhalt der Vergleichsverhandlungen) ergeben.
2. Im Annahmeverzug des Arbeitgebers obliegt es dem Arbeitnehmer zwar, die Nachteile für den Arbeitgeber möglichst gering zu halten. Seine Obliegenheit, keinen zumutbaren Erwerb oder Verdienst böswillig zu unterlassen (§ 615 Satz 2 letzter Fall BGB, § 11 Nr. 2 KSchG) bedeutet aber nicht, dass er um jeden Preis und unter allen Umständen möglichst ab dem ersten Tag des Annahmeverzugs einen durchgängigen Verdienst erzielen müsste. Ein Arbeitnehmer, dem dies nicht gelingt, trägt im Annahmeverzugsprozess nicht etwa schon deshalb die Darlegungslast für fehlende Böswilligkeit. Dies gilt erst recht, wenn sich der Annahmeverzug an eine unwirksame fristlose Kündigung anschließt und der Arbeitnehmer mit diesem Makel behaftet einen anderweitigen Erwerb oder Verdienst suchen muss.
Leitsatz (redaktionell)
Nach §§ 133, 157 BGB sind Verträge - auch Prozessvergleiche - so auszulegen, wie die Parteien sie nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte verstehen mussten. Dabei ist zunächst vom Wortlaut auszugehen. Zur Ermittlung des wirklichen Parteiwillens sind darüber hinaus die außerhalb der Vereinbarung liegenden Umstände einzubeziehen, soweit sie einen Schluss auf den Sinngehalt der Erklärung zulassen. Ebenso sind die bestehende Interessenlage und der mit dem Rechtsgeschäft verfolgte Zweck zu berücksichtigen.
Normenkette
BGB §§ 133, 157, 615; KSchG § 11; GG Art. 12 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Stuttgart (Entscheidung vom 12.04.2022; Aktenzeichen 8 Ca 24/22) |
Tenor
- Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart - Kammern Aalen - vom 12.04.2022 - 8 Ca 24/22 - wird zurückgewiesen.
- Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger für den Monat Juni 2021 Arbeitsentgelt aus einem Vergleich oder jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs schuldet.
Der Kläger hatte bei der Beklagten zunächst seit dem 1. September 2017 eine Ausbildung absolviert. Mit dem am 7. Januar 2021 abgeschlossenen schriftlichen Arbeitsvertrag (Anlage B8, Bl. 86 bis 92 LAG-Akte, künftig: ArbV) vereinbarten die Parteien sodann ein bis zum 31. Juli 2021 befristetes Arbeitsverhältnis, das voraussichtlich ab dem 18. Januar 2021 beginnen sollte und auf das die Betriebszugehörigkeit seit dem 1. September 2017 vollumfänglich angerechnet werden sollte (vgl. Nr. 2 Buchst. a ArbV).
Im Hinblick auf das zum 31. Juli 2021 infolge der Befristung anstehende Ende des Arbeitsverhältnisses der Parteien meldete sich der Kläger bei der Agentur für Arbeit am 25. April 2021 online arbeitssuchend ("Online-Arbeitssuchend-Meldung" vom 25. April 2021, Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 1. September 2022, Bl. 46 LAG-Akte). Hierbei gab er als letzten Tag der Beschäftigung den 31. Juli 2021 und als zuletzt ausgeübte Tätigkeit entsprechend der mit der Beklagten arbeitsvertraglich vereinbarten Tätigkeit "Anlernkraft Instandhaltung" an.
Mit Schreiben vom 7. Mai 2021 sprach die Beklagte gegenüber dem Kläger eine außerordentliche, fristlose Kündigung aus (Anlage K1 im Verfahren des Arbeitsgerichts Stuttgart - Kammern Aalen - 8 Ca 33/21 -, Bl. 4 der beigezogenen Akte 8 Ca 33/21).
Ab dem 11. Mai 2021 bewarb der Kläger sich auf Stellen bei ua. sechs Arbeitgebern (vgl. Schriftsatz des Klägers vom 1. September 2022, Seite 1, Bl. 44 LAG-Akte iVm. den Bewerbungsbestätigungen Anlagen B2 bis B7, Bl. 47 bis 52 LAG-Akte). Darunter befand sich auch die Firma L. Zuvor war dem Kläger ein Stellenvorschlag als Mechaniker bei der Firma L. von der Agentur für Arbeit zugeleitet worden. Der Kläger hatte daraufhin bei der Agentur für Arbeit angefragt, ob er seinen Obliegenheiten auch genüge, wenn er bei dieser Firma frage, ob er nicht eine Stelle als Mechatroniker statt als Mechaniker bekommen könne. Die Agentur für Arbeit signalisierte ihm, dass das in Ordnung sei. Seine Bewerbungen bei den übrigen fünf besagten Arbeitgebern kamen zumindest teilweise dadurch zustande, dass die Firma L. den Kläger, den sie nicht selbst als Mechatroniker beschäftigen konnte, gefragt hatte, ob er noch Arbeit suche, und ihm dann Informationen über einige andere Stellen gegeben hatte.
Mit Schreiben vom 11. ...