Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsbedingte Kündigung, wenn ein Arbeitsplatz innerhalb eines Gemeinschaftsbetriebs in ein anderes Unternehmen verlagert wird
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei Annahme eines Gemeinschaftsbetriebs ist, unabhängig von der vertraglichen Bindung zu einem der Rechtsträger, vor Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung zu prüfen, ob ein freier Arbeitsplatz in dem gemeinsamen Betrieb mit einem dort beschäftigen, von Kündigung bedrohten Arbeitnehmer besetzt werden kann. In diesen Fällen kommt ein arbeitgeberübergreifender Kündigungsschutz in Betracht.
2. In einem gemeinsamen Betrieb zweier Unternehmen hat anlässlich einer betriebsbedingten Kündigung die Sozialauswahl unternehmensübergreifend zu erfolgen.
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 2-3
Verfahrensgang
ArbG Stuttgart (Urteil vom 02.07.2004; Aktenzeichen 13 Ca 738/02) |
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart – Kammern Aalen – vom 02.07.2004 (Az.: 13 Ca 738/02) abgeändert:
1.1 Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentlichen Kündigungen der Beklagten vom 06.12.2002 und 10.12.2002 nicht zum 30.06.2003 beendet worden ist.
1.2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens als Betriebsärztin weiterzubeschäftigen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit zweier außerordentlicher betriebsbedingter Kündigungen mit sozialer Auslauffrist vom 06.12.2002 und 10.12.2002 zum 30.06.2003.
Die Beklagte, eines von mehreren V.-Unternehmen am Standort H., beschäftigte im Kündigungszeitpunkt ca. 330 Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Gegenstand der geschäftlichen Tätigkeit der Beklagten war in der Vergangenheit die Erbringung verschiedener zentraler Dienstleistungen für die V.-Unternehmen am Standort H.. Dazu gehörten u.a. die Leistungen eines betriebsärztlichen Dienstes für andere V.-Unternehmen und externe Unternehmen und Verwaltungen. Die Beklagte, die Firma V. AG (Konzernobergesellschaft) und drei weitere kleinere Konzernfirmen bildeten und bilden am Standort H. einen einheitlichen Betrieb mit ca. 450 Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen im Kündigungszeitpunkt. Bei der Beklagten bestehen ein Betriebsrat und eine Schwerbehindertenvertretung.
Die am 02.07.1942 geborene und verheiratete Klägerin ist bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerinnen seit dem 01.09.1982 als Betriebsärztin beschäftigt, zuletzt bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden zu einem monatlichen Bruttoentgelt von 3.700,00 EUR. Die Klägerin ist mit einem GdB von 30 % einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Sie war im Zeitpunkt der Kündigungen Betriebsratsmitglied und Vertrauensfrau der Schwerbehinderten.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden (im Folgenden: MTV) Anwendung. Gemäß § 4.4 MTV kann einem Beschäftigten, der das 53., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet hat und dem Betrieb mindestens 3 Jahre angehört, nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden. Gemäß § 4.5.2 MTV beträgt die Kündigungsfrist bei einer ordentlichen Kündigung nach einer Betriebszugehörigkeit von 12 Jahren mindestens 6 Monate zum Schluss eines Kalendervierteljahres.
Am 13.12.1985 kündigte eine Rechtsvorgängerin der Beklagten das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin außerordentlich und hilfsweise ordentlich. Mit Urteil vom 24.03.1988 – 2 AZR 369/87 – (AP Nr. 1 zu § 9 ASiG) stellte das Bundesarbeitsgericht die Rechtsunwirksamkeit dieser Kündigung fest.
Im Herbst 2002 erfolgten bei der Beklagten und im gemeinsamen Betrieb der Beklagten Umstrukturierungen. Mit diesen Umstrukturierungen wurde das Ziel verfolgt, unternehmens- und standortübergreifende zentrale Funktionen bei der Konzernobergesellschaft (V. AG) zu konzentrieren, die Beklagte in eine Gesellschaft für Standort-Dienstleistungen weiterzuentwickeln und sie von dazu nicht gehörenden administrativen Aufgaben im Personalmanagement zu befreien. Im Rahmen dieser Umstrukturierungen wurden von der Beklagten auf die V. AG Geschäftsbereiche mit insgesamt 130 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen übergeleitet. Dazu gehörte u.a. der arbeitsmedizinische Dienst mit insgesamt 15 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Insoweit wird auf den Kauf- und Übertragungsvertrag vom 01.10.2002 (Bl. 51 – 65 der erstinstanzlichen Akte) Bezug genommen.
In diesem Zusammenhang wurde ein Interessenausgleich am 23.09.2002 abgeschlossen (vgl. Bl. 68 – 70 der erstinstanzlichen Akte). Die Beklagte unterrichtete alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit Schreiben vom 30.09.2002 über den Betriebsübergang gemäß § 613a BGB, u.a. die Klägerin (vgl. Schreiben Bl. 71 u. 72 der erstinstanzlichen Akte).
Mit Schreiben vom 07.11.2002 widersprach die Klägerin dem Übergang ihres Arbeit...