Entscheidungsstichwort (Thema)

Darlegungslast und Sozialdatenschutz bei Streit um Entgeltfortzahlung für Fortsetzungserkrankung. Zahlungsklage der Arbeitnehmerin bei unzureichenden Darlegungen der Arbeitgeberin nach Mitteilung der Krankenkasse zum Nichtvorliegen anrechenbarer Vorerkrankungen

 

Leitsatz (amtlich)

Hat die Krankenkasse dem Arbeitgeber gem. § 69 Abs. 4 SGB X mitgeteilt, dass im Zeitraum des § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EFZG keine anrechenbare Vorerkrankungen vorgelegen haben, ist ein nicht durch Tatsachen begründetes anlassloses Bestreiten einer Neuerkrankung durch den Arbeitgeber noch nicht geeignet, den Arbeitnehmer in der sekundären Darlegungslast zu einer Offenbarung seiner Krankheitsdiagnosen zu veranlassen. Der Arbeitnehmer ist erst dann gehalten, zu seinen Diagnosen vorzutragen, wenn durch Tatsachen begründete Zweifel an der Richtigkeit der Mitteilung der Krankenkasse vorliegen. (teilweise Abweichung zu BAG 13. Juli 2005 - 5 AZR 389/04 - BAGE 115, 206)

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Regelung des § 69 Abs. 4 SGB X ermöglicht es den Krankenkassen, der Arbeitgeberin die Daten mitzuteilen, die diese wissen muss, um eine Arbeitsentgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG einschränken zu können; das Verbot der Übermittlung der Diagnosedaten entspricht dem Erforderlichkeitsprinzip und dient dem Schutz des Persönlichkeitsrechts der Arbeitnehmerin.

2. Aufgrund des Schutzzwecks der Norm ist es der Arbeitgeberin nicht gestattet, den Zugriff auf die Diagnosedaten der Arbeitnehmerin dadurch zu ermöglichen, dass sie die Arbeitnehmerin ohne weiteren äußeren Anlass durch bloße Nichtzahlung der Entgeltfortzahlung über die Regeln der Darlegungslast in die wirtschaftliche Zwangslage versetzt, die Daten selbst offenbaren zu müssen, die die Krankenkasse nicht hätte offenbaren dürfen; das bloße anlasslose Bestreiten einer neuen Krankheit führt nicht zu einer gesteigerten Darlegungslast der Arbeitnehmerin mit einer Offenbarungspflicht über ihre Diagnosen.

3. Ist die Krankenkasse als Körperschaft öffentlichen Rechts (§ 4 SGB V) auf der Grundlage ihrer Tatsachenkenntnis der Mitteilungspflicht nach § 69 Abs. 4 SGB X nachgekommen und hat sie der Arbeitgeberin mitgeteilt, dass anrechnungsfähige Vorerkrankungen nicht vorliegen, kann die Arbeitnehmerin (ähnlich wie beim Beweiswert einer ebenfalls nur eine Bewertung enthaltenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bezogen auf das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit) ihre Diagnosedaten solange zurückzuhalten, bis die Arbeitgeberin Tatsachen darlegt, die zu Zweifeln an der Richtigkeit der Mitteilung der Krankenkasse Anlass geben.

 

Normenkette

EFZG § 3 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 1, § 5 Abs. 1; SGB X § 69 Abs. 4; ZPO § 138 Abs. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Reutlingen (Entscheidung vom 12.11.2015; Aktenzeichen 1 Ca 298/15)

 

Tenor

  • I.

    Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Reutlingen vom 12.11.2015 (1 Ca 298/15) teilweise abgeändert.

    1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin für den Monat März 2015 noch 1.752,91 € brutto zu zahlen abzüglich erhaltenem Krankengeld in Höhe von 806,76 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 01.04.2015.
    2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin für den Monat April 2015 noch 2.531,96 € brutto zu zahlen abzüglich erhaltenem Krankengeld in Höhe von 1.142,91 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 01.05.2015.
    3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
  • II.

    Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

  • III.

    Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu 62,5 %, die Klägerin zu 37,5 zu tragen.

  • IV.

    Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung von Entgeltfortzahlung für den Krankheitsfall.

Die Klägerin ist bei der Beklagten seit 03.02.1992 beschäftigt als Gruppenleiterin. Sie bezog zuletzt ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 4.311,46 €.

Die Klägerin war arbeitsunfähig krank im Zeitraum vom 19.03. bis 17.04.2015. Diese Arbeitsunfähigkeit wurde durch Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Erstbescheinigung) der Ärztin F. vom 19.03.2015 und durch Folgebescheinigung des Arztes Herrn S. vom 27.03.2015 nachgewiesen.

Vor diesem Arbeitsunfähigkeitszeitraum war die Klägerin in den vorangegangenen sechs Monaten in folgenden Zeiträumen arbeitsunfähig krank:

Beginn

Ende

Erst- oder Folgebescheinigung laut AUB

Tage

Ausstellender Arzt

22.09.14 (Mo.)

24.09.14 (Mi.)

Erstbescheinigung

3

F.

25.09.14 (Mo.)

25.09.14 (Mi.)

Folgebescheinigung

1

F.

05.10.14 (So.)

08.10.14 (Mi.)

Erstbescheinigung

4

G.

06.10.14 (Mo.)

10.10.14 (Fr.)

Erstbescheinigung

5

F.

21.10.14 (Di.)

24.10.14 (Fr.)

Erstbescheinigung

4

F.

19.11.14 (Mi.)

21.11.14 (Fr.)

Erstbescheinigung

3

F.

24.11.14 (Mo.)

28.11.14 (Fr.)

Erstbescheinigung

5

S.

29.12.14 (Mo.)

03.01.15 (Fr.)

Erstbescheinigung

5

H.

09.01.15 (Fr.)

16.01.15 (Fr.)

Folgebescheinigung

8

F.

28.01.15 (Mi.)

28.01.15 (Mi.)

ohne AUB

1

-

30.01.15 (Fr.)

30.01.15 (Fr.)

ohne AUB

1

...

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