Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisungs- und Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge im Arbeitsvertrag. Verweisungsklauseln und Inhaltskontrolle bei Beendigung des in Bezug genommenen Tarifvertrages. Auslegung eines Tarifvertrages und Indizien für eine statische Verweisung
Leitsatz (redaktionell)
1. Die individualvertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag ist anerkannt und - unabhängig von einer kollektivrechtlichen Geltung - stets konstitutiv (ErfK/Franzen, 16. Aufl. 2016, § 3 TVG Rn. 33; Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl. 2011, II V Rz. 7). Durch sie wird der Tarifvertrag, auf den Bezug genommen wird, zum Inhalt des Arbeitsvertrages (allgem. Auffassung, z.B. BAG 7. Dezember 1977 - 4 AZR 474/76 -; ErfK/Franzen aaO. Rn. 32). Eine solche individualrechtliche Bezugnahme kann statisch sein oder dynamisch, es kann sich um eine Globalverweisung oder Teilverweisung handeln. Im Übrigen kann der Tarifvertrag, der einzelvertraglich in Bezug genommen wurde, seinerseits weiter - statisch oder dynamisch - auf einen anderen Tarifvertrag oder sogar auf mehrere Tarifverträge verweisen (Doppel- oder Mehrfachverweisung; vgl. BAG 18. November 2009 - 4 AZR 493/08 - Rn. 26, 21. November 2012 - 4 AZR 85/11 - Rn. 36 ).
2. Zur Beantwortung der Frage, was nach Beendigung des bezugnehmenden Tarifvertrages gilt und in welchem Umfang eine AGB-Kontrolle stattzufinden hat, ist zwischen der individualvertraglichen Bezugnahmeklausel und der tarifvertraglichen Verweisungsklausel zu differenzieren. Es ist von der individualvertraglichen Bezugnahmeklausel auszugehen und diese, soweit es sich wie hier unstreitig um eine allgemeine Geschäftsbedingung handelt, einer AGB-Kontrolle zu unterziehen. Zweifel bei der Auslegung gehen nach § 305c Abs. 2 BGB zulasten des Verwenders. Es ist eine Transparenzkontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB vorzunehmen. Im Übrigen findet bei der individualvertraglichen Bezugnahmeklausel eine Inhaltskontrolle nicht statt, weil diese nach § 307 Abs. 3 BGB nur für Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen in Betracht kommt, die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen enthält, was vorliegend nicht der Fall ist, weil Tarifverträge, und damit auch Anerkennungstarifverträge, nach § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB Rechtsvorschriften im Sinne von § 307 Abs. 3 BGB gleichstehen (BT-Dr 14/6857, S. 54; Thüsing, NZA 2002, 1361, 1362). Der Inhalt des Anerkennungstarifvertrages selbst unterliegt dagegen, genauso wie die Inhalte der von diesem in Bezug genommenen Tarifverträge gem. § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB keiner AGB-Kontrolle.
3. Eine Auslegung der Bezugnahmeklausel nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn führt zur Annahme einer statischen Verweisung. Aus der Sicht von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der regelmäßig beteiligten Verkehrskreise ist die Bezugnahmeklausel unter Berücksichtigung der Auslegung des ATV dahingehend zu verstehen, dass sie im Zusammenspiel mit dem ATV einen Entgeltverzicht der Arbeitnehmer ausgleichen und der Rechtsvorgängerin der Beklagten eine Loslösung von ihrer mittelbaren tariflichen Bindung ermöglichen sollte. Für das Vorliegen einer statischen schuldrechtlichen Bezugnahmeklausel spricht auch, dass die Tarifvertragsparteien in § 4 Nr. 2 des Anerkennungstarifvertrages eine Kündigungsmöglichkeit frühestens zum 31. Dezember 2011 vorgesehen haben. Eine solche entspricht regelmäßig dem Willen der Tarifvertragsparteien, die Anerkennung auf die während der Laufzeit eines Anerkennungstarifvertrages abgeschlossenen Verbandstarifverträge zu beschränken (vgl. LAG Baden-Württemberg 29. Januar 2014 - 19 Sa 42/13 -). Bei einer unbedingten dynamischen Verweisung liefe eine Kündigung der Arbeitgeberin ins Leere, da über die schuldrechtliche Bezugnahme eine Bindung an später abgeschlossene Verbandstarifverträge bestünde.
Normenkette
TVG §§ 1, 3 Abs. 1; BGB § 305c Abs. 2, § 307 Abs. 3 S. 1, § 310 Abs. 4, § 611 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Karlsruhe (Entscheidung vom 07.10.2015; Aktenzeichen 5 Ca 212/15) |
Nachgehend
Tenor
- Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe vom 07.10.2015, Az. 5 Ca 212/15 wird zurückgewiesen.
- Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.
- Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um eine dynamische Anwendbarkeit der Tarifverträge der chemischen Industrie.
Die Klagpartei begründete das streitgegenständliche Arbeitsverhältnis am 17. Juli 1989 mit der Firma F. GmbH, die später in die F. Group GmbH umfirmierte. Über deren Vermögen, sowie die über die Vermögen der mitverbundenen Unternehmen B. GmbH und S. GmbH wurden am 00.00.2009 Insolvenzverfahren eröffnet. Mit notariellem Vertrag vom 11. März 2010 vereinbarte die B. Group AG, die mittlerweile zur Beklagten umfirmiert hat, mit den Insolvenzverwaltern der genannten Insolvenzgesellschaften den Erwerb und die Übernahme der Vermögen der Insolvenzgesellschaften, was mit...