Entscheidungsstichwort (Thema)
Zurückweisung von Vorbringen nach § 296 Abs. 2 ZPO. Unionsrechtskonformität des § 5 Satz 1 NachwG. Berichtigung des Urteilstatbestands durch das Berichtigungsverfahren des § 320 ZPO. Grundsatz der freien Beweiswürdigung im Zivilprozess. Neufassung des § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 14 NachwG
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Zurückweisung von Vorbringen nach § 296 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 282 Abs. 1 ZPO ist nur dann möglich, wenn das Vorbringen in der mündlichen Verhandlung erfolgt ist. Auf Vorbringen vor der mündlichen Verhandlung findet § 282 Abs.1 ZPO keine Anwendung.
2. § 5 Satz 1 NachwG, der für Arbeitsverhältnisse, die bereits vor dem 1. August 2022 bestanden haben, eine Nachweispflicht der für ein Arbeitsverhältnis wesentlichen Arbeitsbedingungen nur auf Verlangen des Arbeitnehmers vorsieht, ist unionsrechtskonform.
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Unrichtigkeit tatbestandlicher Feststellungen erster Instanz kann grundsätzlich nur im Berichtigungsverfahren nach § 320 ZPO geltend gemacht werden. Denn der Tatbestand des Urteils liefert auch Beweis für das mündliche Parteivorbringen.
2. Nach § 286 Abs. 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach seiner freien Überzeugung darüber zu befinden, ob es eine tatsächliche Behauptung für wahr erachtet oder nicht. Das Gericht darf und muss sich mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.
3. Seit dem 1. August 2022 wurde der Nachweistatbestand des § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 14 NachwG weitgehend neu gefasst: Während bislang nur die Fristen für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses nachzuweisen waren, muss jetzt in der ersten Alternative der Nr. 14 das bei Kündigungen des Arbeitsverhältnisses von Arbeitgeber und Arbeitnehmer einzuhaltende Verfahren nachgewiesen werden, mindestens das Schriftformerfordernis und die Fristen für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
Normenkette
ZPO § 296 Abs. 2, § 282 Abs. 1; NachwG § 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 14, § 5 S. 1; KSchG § 5; EURL 2019/1152 Art. 22 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1; BGB §§ 130, 158 Abs. 2; ZPO § 320
Verfahrensgang
ArbG Villingen-Schwenningen (Entscheidung vom 09.11.2022; Aktenzeichen 4 Ca 284/22) |
Tenor
- Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Villingen-Schwenningen vom 9. November 2022 - 4 Ca 284/22 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten - soweit für das Berufungsverfahren von Bedeutung - um die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung.
Die am 00.00.1975 geborene Klägerin war seit 1. April 2008 als Pflegehelferin bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Die vertraglichen Bedingungen richteten sich nach dem Arbeitsvertrag vom 1. April 2008 und der Änderung vom 25. Juni 2020 (Anlagen K 1 und K 2, Bl. 5 ff. der erstinstanzlichen Akte). Sie erzielte eine durchschnittliche Bruttomonatsvergütung in Höhe von 2.287,30 Euro bei einem Arbeitszeitumfang von 70% einer Vollzeitbeschäftigung. Die Beklagte beschäftigt rund 200 Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Sie wird durch einen Geschäftsführer und eine Geschäftsführerin vertreten. Nach den Eintragungen im Handelsregister sind beide einzelvertretungsberechtigt. Die Geschäftsführerin ist die Schwägerin der Klägerin.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 29. August 2022 außerordentlich mit sofortiger Wirkung und hilfsweise ordentlich zum 31. März 2023. Das Kündigungsschreiben war unterzeichnet von der Pflegedienstleiterin. Beigefügt war das Original einer Vollmacht, die von der Geschäftsführerin der Beklagten unterzeichnet war. Die Klägerin befand sich vom 18. August bis 13. September 2022 in Erholungsurlaub im Ausland. Nach dem Vortrag der Beklagten wurde die Kündigung am 29. August 2022 in den Briefkasten der Klägerin eingelegt. Die Kündigungsschutzklage nebst Antrag auf nachträgliche Klagzulassung ging am 22. September 2022 beim Arbeitsgericht ein.
Im Rahmen der Klageschrift hat die Klägerin vorgetragen, sie habe erst am 14. September 2022 den Briefkasten geleert und die Kündigung vorgefunden. Sie sei völlig überrascht gewesen. Am 20. September 2022 habe sie ihren Prozessbevollmächtigten aufgesucht. Ein wichtiger Grund liege nicht vor, auch der ordentlichen Kündigung fehle es an Gründen. Die Einhaltung der zweiwöchigen Kündigungserklärungsfrist werde ebenso bestritten wie die Anhörung des Betriebsrats. Die Geschäftsführerin sei zudem nicht allein vertretungsberechtigt.
In der Ladung zum Gütetermin hat das Arbeitsgericht darauf hingewiesen, "dass sich die Klägerin in diesem gerichtlichen Verfahren spätestens bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der ersten Instanz zur Begründung der Unwirksamkeit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch auf Gründe berufen kann, die sie noch nicht innerhalb der Klagefrist geltend gemacht hat (...