Entscheidungsstichwort (Thema)

Entschädigungsanspruch nach AGG abtretbar. Pfändbarkeit von Entschädigungsansprüchen nach AGG. Entschädigungsansprüche nach AGG als Teil der Insolvenzmasse. Vier Bruttogehälter als Entschädigung bei Verstoß gegen Benachteiligungsverbot wegen Kündigung. Vermutung der Benachteiligung bei Kündigung eines Schwerbehinderten ohne Anhörung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Anspruch auf Entschädigung wegen eines immateriellen Schadens nach einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot (§ 15 Abs. 2 Satz 1 AGG) kann abgetreten und gepfändet werden. Er fällt daher in die Insolvenzmasse (im Anschluss an BGH 18.06.2020 - IX ZB 11/19 -). Der benachteiligte Arbeitnehmer bleibt zwar Anspruchsinhaber, verliert aber die Befugnis, das Recht in eigener Person geltend zu machen. Der Insolvenzverwalter kann den Arbeitnehmer aber ermächtigen, das Recht im eigenen Namen zur Zahlung an den Insolvenzverwalter geltend zu machen ("gewillkürte Prozessstandschaft").

2. Die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers ohne vorherige Einholung der Zustimmung des Integrationsamtes begründet die Vermutung i.S.v. § 22 AGG, dass er wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt worden ist.

3. Grundsätzlich kann auch bei der Berechnung der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG vom Bruttomonatsgehalt ausgegangen werden.

4. Die Kündigung stellt einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG dar, der eine Entschädigung von vier Gehältern rechtfertigen kann.

 

Normenkette

InsO §§ 35-36, 287 Abs. 2 S. 1, § 292 Abs. 1 S. 3; ZPO § 850 Abs. 4, § 850 c; AGG §§ 1, 3 Abs. 1, § 7 Abs. 1, § 15 Abs. 2, § 22; SGB IX § 168; KSchG § 1 Abs. 3 S. 1; BGB § 291 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Villingen-Schwenningen (Entscheidung vom 18.08.2020; Aktenzeichen 3 Ca 99/20)

 

Tenor

  1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Villingen-Schwenningen vom 18. August 2020 - 3 Ca 99/20 - unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung teilweise abgeändert:

    Die Beklagte wird verurteilt, an Rechtsanwalt G. als Insolvenzverwalter im Insolvenzverfahren über das Vermögen des Klägers 10.289,76 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 10. April 2020 zu bezahlen.

  2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
  3. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über einen Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG.

Der am 0.0.1962 geborene Kläger ist auf der Grundlage des Arbeitsvertrages vom 13. August 2018 seit dem 20. August 2018 als Fahrer und Mitarbeiter in der Logistik mit einer Vergütung von zuletzt 16,00 Euro brutto pro Stunde 40 Stunden in der Woche beschäftigt (Anlage K2, Bl. 5 f. der erstinstanzlichen Akte). Ein Überstundenzuschlag ist i.H.v. 25% vereinbart. Nach der Entgeltabrechnung für Dezember 2019 erzielte er einen Jahresbruttoverdienst in Höhe von 41.159,49 Euro. In diesem ist Weihnachtsgeld beinhaltet. Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch anerkannt seit 29. Oktober 2015 mit einem Grad der Behinderung von 60 (Anlage K1, Bl. 4 f. der erstinstanzlichen Akte). Der Beklagten ist dies bekannt. Sie gewährt ihm den Zusatzurlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr nach § 208 Abs. 1 SGB IX. Über das Vermögen des Klägers wurde am 4. Juli 2019 das Insolvenzverfahren eröffnet. Zum Insolvenzverwalter wurde Herr Rechtsanwalt G. bestellt. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass der Kläger Restschuldbefreiung erlangt, wenn er den Obliegenheiten des § 295 InsO nachkommt und die Voraussetzungen für eine Versagung nach den §§ 290, 297 bis 298 Ins0 nicht vorliegen (vgl. Anlagen B1 und B2, Bl. 47 ff. der erstinstanzlichen Akte).

Die Beklagte beschäftigt mehrere hundert Arbeitnehmer: Nach dem Vortrag des Klägers ca. 700, nach dem Vortrag der Beklagten ca. 465. Ein Betriebsrat ist nicht errichtet.

Die Beklagte kündigte ohne vorherige Beteiligung des Integrationsamts das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 30. März 2020, dem Kläger am selben Tag zugegangen, zum 30. Juni 2020. Hiergegen erhob der Kläger innerhalb der Frist des § 4 Satz 1 KSchG Klage. Mit E-Mail vom 2. April 2020 forderte er die Beklagte unter Fristsetzung bis 9. April 2020 auf, Entschädigung/Schadenersatz i.H.v. mindestens drei Bruttomonatsgehältern und somit 10.289,76 Euro zu bezahlen. Die Beklagte lehnte das ab. Mit Schriftsatz vom 6. April 2020 erweiterte der Kläger die Klage um den Antrag auf Zahlung von Schadenersatz i.H.v. 10.289,76 Euro. Die Klagerweiterung wurde der Beklagten am 8. April 2020 zugestellt.

Im Gütetermin vor dem Arbeitsgericht, der am 18. Mai 2020 stattfand, erklärte die Beklagte, ein Zustimmungsverfahren sei noch nicht eingeleitet, die Kündigung habe das Arbeitsverhältnis jedenfalls nicht beendet. Mit Schriftsatz vom 17. Juni 2020 teilte die Beklagte mit, dass sie aus der streitgegenständlichen Kündigung keine Rechte mehr herleite und den Kläger weiterbeschäftige. Mit E-Mail vom 19. Juni 2020 forderte sie den Kläger zur Arbeitsaufnahme nach Beendi...

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