Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen an einen Arbeitskollegen gerichteter islamfeindlicher WhatsApp-Nachrichten
Leitsatz (amtlich)
Einzelfallentscheidung zur Wirksamkeit einer nach Abschluss eines Altersteilzeitvertrags erfolgten außerordentlichen fristlosen Kündigung eines seit 35 Jahren beschäftigten, tariflich ordentlich unkündbaren und einem Schwerbehinderten gleichgestellten Arbeitnehmers wegen verbaler und per Whats-App-Nachrichten erfolgter ausländer- und islamfeindlicher Beleidigungen eines türkischstämmigen, muslimischen Arbeitskollegen.
Leitsatz (redaktionell)
1. Grobe Beleidigungen von Arbeitskollegen (hier: durch Versendung islamfeindlicher WhatsApp-Nachrichten an einen Arbeitskollegen türkischer Herkunft) sind "an sich" geeignet, die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen.
2. Ein Arbeitnehmer kann sich für ein solches Verhalten regelmäßig nicht auf sein Recht zur freien Meinungsäußerung oder auf das Grundrecht der Kunstfreiheit berufen.
Normenkette
AGG §§ 1, 7 Abs. 1, § 12 Abs. 3; BetrVG § 102; BGB § 121 Abs. 1, § 626; MTV Metall- und Elektroindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden § 4.4; SGB IX § 151 Abs. 1, §§ 168, 174, 178; ZPO § 286 Abs. 1, § 529 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
ArbG Stuttgart (Entscheidung vom 14.03.2019; Aktenzeichen 11 Ca 3737/18) |
Tenor
- Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 14. März 2019 - 11 Ca 3737/18 - wird zurückgewiesen.
- Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit außerordentlicher arbeitgeberseitiger Kündigungen vom 4. Juni und 5. Juni 2018.
Der am X. März 19XX geborene, verheiratete Kläger ist seit 2. Mai 1983 bei der Beklagten, die mehr als 10 Arbeitnehmer i.S.d. § 23 Abs. 1 KSchG beschäftigt, auf der Grundlage des Arbeitsvertrags vom 2. Mai 1983 (Bl. 6 f. d. ArbG-Akte) zunächst als Stanzer und zuletzt als Anlagenwart zu einer durchschnittlichen Bruttomonatsvergütung von 6.200,00 € tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Manteltarifvertrag für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden (im Folgenden: MTV) Anwendung, der in seinem § 4 auszugsweise Folgendes bestimmt:
"§ 4 Kündigung und Aufhebungsvertrag
...
4.4. Einem Beschäftigten, der das 53., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet hat und dem Betrieb mindestens drei Jahre angehört, kann nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden.
Dies gilt auch für eine Änderungskündigung.
...
4.5. Kündigungsfristen
...
4.5.2 Die Kündigungsfrist des Arbeitgebers beträgt gegenüber dem Beschäftigten nach einer Betriebszugehörigkeit von
...
12 Jahren mindestens 6 Monate
jeweils zum Schluss eines Kalendervierteljahres."
Der Kläger, der einen Grad der Behinderung von 40 aufweist, ist seit dem 3. August 2017 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.
Mit Altersteilzeitvertrag vom 26. April/7. Mai 2018 (Bl. 8 bis 12 d. ArbG-Akte) vereinbarten die Parteien, dass ihr Arbeitsverhältnis ab 1. Juni 2018 als Teilzeitarbeitsverhältnis fortgeführt werden sollte, wobei der Kläger vom 1. Juni 2018 bis voraussichtlich 30. April 2021 weiterhin in der 35-Stunden-Woche beschäftigt werden und dann ab 1. Mai 2021 bis 31. März 2024 freigestellt werden sollte.
Bei der Beklagten existieren eine Richtlinie für integres Verhalten (Bl. 265 bis 276 d. ArbG-Akte) und eine Gesamtbetriebsvereinbarung Arbeitsordnung (Bl. 277 bis 291 d. ArbG-Akte). Diese Regelungen waren dem Kläger bekannt.
Im Zeitraum vom 6. November 2017 bis 29. März 2018 versandte der Kläger über den Instant-Messaging-Dienst WhatsApp seines Mobiltelefons diverse Bild- und Videonachrichten an Herrn K., einen türkischstämmigen Arbeitskollegen muslimischen Glaubens und Vater einer dreijährigen Tochter, der Vertrauensmann der IG Metall ist. Ferner zeichnete der Kläger zusammen mit seinem Arbeitskollegen W. am 28. März 2018 um 10.11 Uhr eine Sprachnachricht mit dem Inhalt "Willst du haben ruhiges Leben, vertraue niemals deinen Kollegen" an Herrn K. auf, an deren Ende er Herrn K. als "Arschloch" bezeichnete. Die Nachricht wurde sodann von Herrn W. Telefon aus an Herrn K. verschickt. Zuvor hatte am 27. März 2018 ein Gespräch unter Beteiligung des Teamleiters und Vorgesetzten des Klägers Ka., des Klägers, des Herrn W. und des Meisters S. stattgefunden, in dem die Stückzahlen in der B-Schicht, der der Kläger, Herr K. und Herr W. angehörten, und die allesamt auf sogenannten MEE-Arbeitsplätzen für Mitarbeiter mit körperlichen Einschränkungen eingesetzt wurden, Thema waren.
Am 28. März 2018 wandte sich Herr K. an seinen nicht kündigungsbefugten Teamleiter Ka. mit dem Vorwurf, dass der Kläger und Herr W. ihn seit Monaten rassistisch sowohl durch entsprechende Nachrichten als auch verbal beleidigen würden.
Am 13. April 2018 befragte der Mitarbeiter des Werksermittlungsdienstes Sc. Herrn K. zum streitgegenständlichen Sachverhalt (siehe Befragungsniederschrift vom 13. April 201...