Verfahrensgang
ArbG Reutlingen (Urteil vom 16.08.1994; Aktenzeichen 4 Ca 213/94) |
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Reutlingen vom 16.08.1994 – 4 Ca 213/94 – wird auf ihre Kosten als unbegründet zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Parteien besteht im Berufungsverfahren Streit darüber, zu welchem Termin eine von der Beklagten/Berufungsklägerin erklärte betriebsbedingte Kündigung das Arbeitsverhältnis der Klägerin/Berufungsbeklagten beendet hat.
Die Beklagte, ein Unternehmen der Maschinenindustrie, stellt Damen- und Herrenwäsche her. Sie gehört dem Fachverband Wirkerei- und Strickerei … e. V. an.
Die Beklagte hat ihre Filiale …, in der sie zuletzt noch 14 Arbeitnehmerinnen beschäftigte, unter ihnen die Klägerin, zum 30.06.1994 geschlossen.
Wegen der Schließung der Filiale … hat die Beklagte das Arbeitsverhältnis der am 02.03.1945 geborenen, nicht gewerkschaftlich organisierten Klägerin als Näherin, das seit 34 Jahren bestanden hatte, durch Schreiben vom 25.03.1994 unter Einhaltung der sich aus § 17 Absatz 2 des Manteltarifvertrages für gewerbliche Arbeitnehmer (im folgenden MTV) ergebenden Kündigungsfrist zum 30.06.1994 gekündigt. Auf die Ablichtung des Kündigungsschreibens (Blatt 3 der Akten) wird wegen der Einzelheiten verwiesen.
§ 17 Absatz 1 und 2 des Manteltarifvertrages für gewerbliche Arbeitnehmer in der Fassung des Tarifvertrages vom 05.11.1992 lauten:
Absatz 1
Die von jeder Seite einzuhaltende Kündigungsfrist beträgt zwei Wochen, nach einer Betriebszugehörigkeit
von fünf Jahren drei Wochen,
von 10 Jahren vier Wochen und
von 15 Jahren sechs Wochen.
Die Kündigung kann nur auf das Ende einer Kalenderwoche erklärt werden.
Absatz 2
Kündigt der Arbeitgeber, so gelten für ihn zusätzlich die Bestimmungen des § 622 Absatz 2 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches.
Erläuterungen:
§ 622 Absatz 2 Satz 2 BGB lautet:
„Hat das Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen fünf Jahre bestanden, so erhöht sich die Kündigungsfrist auf einen Monat zum Monatsende; hat es 10 Jahre bestanden, so erhöht sich die Kündigungsfrist auf zwei Monate zum Monatsende; hat es 20 Jahre bestanden, so erhöht sich die Kündigungsfrist auf drei Monate zum Ende eines Kalendervierteljahres; bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer werden Zeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, nicht berücksichtigt.”
Gemäß § 4 des Manteltarifvertrages für Angestellte in der Fassung vom 29.05.1991 gelten für die Kündigung von Angestellten die gesetzlichen Vorschriften.
In der baden-württembergischen Textilindustrie sind die gewerblichen Arbeitnehmer, die einen Anteil von ca. 75 % der insgesamt Beschäftigten ausmachen, überwiegend in der Produktion eingesetzt.
Mit ihrer Klage erstrebt die Klägerin die Feststellung, daß die Kündigung der Beklagten vom 25.03.1994 das Arbeitsverhältnis nicht am 30.06.1994 aufgelöst, dieses vielmehr bis zum 31.10.1994 fortbestanden hat. Die Klägerin hat geltend gemacht, die tarifliche Kündigungsfrist finde keine Anwendung, weil der Tarifvertrag für ihr Arbeitsverhältnis nicht gelte. § 17 Absatz 2 MTV enthalte im übrigen lediglich eine deklaratorische Regelung, die auf § 622 Absatz 2 BGB in der jeweils gültigen Fassung verweise, so daß § 622 Absatz 2 Nr. 7 BGB anzuwenden sei.
Die Klägerin hat beantragt:
Es wird festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis durch ordentliche Kündigung der Beklagten vom 25.03.1994 nicht am 30.06.1994 beendet worden ist, sondern bis zum 31.10.1994 fortbesteht.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat geltend gemacht, der MTV finde kraft betrieblicher Übung Anwendung und hat die Auffassung vertreten, bei § 17 Absatz 2 MTV handle es sich um eine konstitutiv wirkende eigenständige Tarifregelung, die nicht gegen Artikel 3 Grundgesetz verstoße. Sie trage den Verhältnissen in der Textilindustrie Rechnung. Dort bestehe im produktiven Bereich ein erhöhtes unternehmerisches Bedürfnis an flexibler Personalplanung, weshalb für gewerbliche Arbeitnehmer im Verhältnis zu den Angestellten kürzere Kündigungsfristen sachlich gerechtfertigt seien. Weil die Klägerin der unrichtigen Auffassung sei, daß die tariflichen Bestimmungen für ihr Arbeitsverhältnis nicht gälten, sei sie zur Rückzahlung tariflicher Leistungen, die sie in den Jahren 1990 bis 1993 erhalten habe, verpflichtet.
Die Beklagte hat im Wege der Widerklage beantragt:
Die Klägerin wird verurteilt, an die Beklagte DM 9 163,98 nebst 15 % Zinsen ab Zustellung zu zahlen.
Die Klägerin/Widerbeklagte hat beantragt,
die Widerklage abzuweisen.
Die Klägerin ist der Widerklage entgegengetreten.
Wegen des Sach- und Streitstandes im einzelnen wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Blatt 41 bis 43 der Akten) sowie auf den schriftlichen und den aus der arbeitsgerichtlichen Sitzungsniederschrift vom 28.06.1994 (Blatt 37 der Akten) ersichtlichen mündlichen Vortrag der Parteien Bezug genommen. Das Arbeitsg...