Entscheidungsstichwort (Thema)
Sicherung eines Mitbestimmungsrechts im einstweiligen Rechtsschutz. Abhängigkeit von Verfügungsgrund und Verfügungsanspruch bei Mitbestimmungsrecht im einstweiligen Verfügungsverfahren. Erfolgsaussichten der Klage als Kriterium im einstweiligen Verfügungsverfahren. Kein Recht zur Betriebsvereinbarung bei fehlender Öffnungsklausel im Tarifvertrag. Anrückzeit als angemessene Zeitspanne für Arbeitsaufnahme
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Feststellung des Verfügungsgrundes als Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Sicherung eines Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats besteht eine Abhängigkeit zwischen Verfügungsgrund und Verfügungsanspruch.
Die Sicherheit, mit der ein Mitbestimmungsrecht und ein daraus resultierender Unterlassungsanspruch bestehen, ist bei der Feststellung des Verfügungsgrundes zu berücksichtigen.
Eine Rechtslage, die eindeutig zu Gunsten des Arbeitgebers oder des Betriebsrats spricht, ist zu berücksichtigen.
Bei unklarer Rechtslage ist auf die Interessenabwägung abzustellen.
Maßgebend ist, wie sich die behauptete Verletzung eines Mitbestimmungsrechts im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und betroffenen Arbeitnehmern auswirkt und in welchem Umfang die Mitarbeiter effektiv geschützt sind.
2. Aus dem Tarifvorrang folgt, dass im Geltungsbereich einer zwingenden Tarifvorschrift ohne ausdrückliche Öffnungsklausel, die die Anrückzeit im Rahmen von Rufbereitschaft regelt, diese Anrückzeit nicht durch Betriebsvereinbarung geregelt werden kann.
Es spricht einiges dafür, dass § 10 Abs. 8 TV-Ärzte/VKA ohne Öffnungsklausel die Anrückzeit dahin regelt, dass sie die angemessene Zeitspanne zur Arbeitsaufnahme ist.
Im Geltungsbereich der Tarifvorschrift kann dann eine Betriebsvereinbarung die Länge der Anrückzeit nicht wirksam regeln.
Normenkette
BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 2, § 77 Abs. 1 S. 1, § 80 Abs. 1 Nr. 1; TV-Ärzte/VKA § 10 Abs. 8; ZPO § 940
Verfahrensgang
ArbG Brandenburg (Entscheidung vom 10.11.2021; Aktenzeichen 4 BVGa 5/21) |
Tenor
Die Beschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Brandenburg an der Havel vom 10. November 2021 - 4 BVGa 5/21 - wird zurückgewiesen.
Gründe
A.
Betriebsrat und Arbeitgeberin streiten über einen einstweiligen Unterlassungsanspruch gegen eine Anweisung der Arbeitgeberin, für den Rufbereitschaftsdienst von Fachärzten eine Höchstzeit zwischen Abruf und Verfügbarkeit am Patienten von 30 Minuten vorzugeben.
Die Beteiligte zu 2 und Arbeitgeberin betreibt ein städtisches Krankenhaus. Der antragstellende Beteiligte zu 1 ist der bei der Arbeitgeberin gebildete Betriebsrat.
Die Arbeitgeberin ist als Mitglied des Kommunalen Arbeitgeberverbands Brandenburg an den "Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TV-Ärzte/VKA)" gebunden. Der TV-Ärzte/VKA vom 17.08.2006 in der Fassung des Änderungstarifvertrag Nr. 7 vom 22.05.2019 bestimmt zur Rufbereitschaft wie folgt:
"§ 7 Regelmäßige Arbeitszeit
... (6) Ärztinnen und Ärzte sind im Rahmen begründeter betrieblicher/dienstlicher Notwendigkeiten zu ... Rufbereitschaft ...verpflichtet.
§ 10 ... Rufbereitschaft
... (8) Der Arzt hat sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufzuhalten, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen (Rufbereitschaft). Rufbereitschaft wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Arzt vom Arbeitgeber mit einem Mobiltelefon oder einem vergleichbaren technischen Hilfsmittel zur Gewährleistung der Erreichbarkeit ausgestattet wird. Der Arbeitgeber darf Rufbereitschaft nur anordnen, wenn erfahrungsgemäß lediglich in Ausnahmefällen Arbeit anfällt. Durch tatsächliche Arbeitsleistung innerhalb der Rufbereitschaft kann die tägliche Höchstarbeitszeit von zehn Stunden (§ 3 ArbZG) überschritten werden (§ 7 ArbZG)."
Die zwischen den Beteiligten durch Spruch der Einigungsstelle zustande gekommene "Betriebsvereinbarung Dienstplangestaltung und Arbeitszeit Ärzte (BV Arbeitszeit Ärzte)" vom 27.02.2014 sieht in § 10 Rufbereitschaft vor:
"10.2 Während der Rufbereitschaft müssen die Beschäftigten telefonisch erreichbar und in der Lage sein, ihre Arbeit innerhalb einer für die notwendige Patientenversorgung angemessenen Zeit aufzunehmen."
Mit Dienstanweisung Nr. 4 / 2021 vom 14.10.2021, in Kraft seit dem 01.11.2021, wies die Beteiligte zu 2 alle Fachärztinnen und Fachärzte in bestimmten Fachabteilungen wie folgt an: "Sie sind während der Rufbereitschaft insbesondere dazu verpflichtet, in Zeiten außerhalb der Anwesenheitszeit im Klinikum innerhalb von 30 Minuten am Patienten verfügbar zu sein. Kann der Facharzt / die Fachärztin diese Vorgabe nicht erfüllen, so ist dies unverzüglich der Geschäftsführung und dem Leitenden Arzt (Chefarzt / Chefärztin) schriftlich anzuzeigen. Darüber hinaus ist der Leitende Arzt (Chefarzt / Chefärztin) unverzüglich mündlich oder telefonisch zu informieren. Ist die Nichterfüllung der zuvor genannten Vorgabe durc...