Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtswidrige Bemessung der tariflichen Grundvergütung nach Lebensaltersstufen. Beseitigung der Benachteiligung durch "Anpassung nach oben"
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Bemessung der Grundvergütung nach dem Lebensalter gemäß § 27 Abschnitt A BAT verstößt gegen das Verbot der Benachteiligung wegen des Alters (Art. 21 EU-Grundrechtecharta); das gilt auch für die Lebensaltersstufen des BAT-O.
2. Die Ungleichbehandlung einer Arbeitnehmerin im Vergleich zu ihren älteren Kolleginnen und Kollegen kann nur dadurch beseitigt werden, dass die Arbeitgeberin eine Vergütung nach der höchsten Lebensaltersstufe der Grundvergütung zahlt ("Anpassung nach oben").
3. Die Arbeitgeberin wird durch die "Anpassung nach oben" nicht in ihrer negativen Koalitionsfreiheit verletzt; die durch Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG geschützte Koalitionsfreiheit schließt das Recht ein, einer Koalition fernzubleiben oder aus ihr auszutreten und steht der Arbeitgeberin weiterhin zu.
4. Auch unionsrechtlich ist es geboten, die Ungleichbehandlung durch eine Anpassung "nach oben" zu beseitigen, bis eine benachteiligungsfreie Neuregelung getroffen ist.
5. Die "Anpassung nach oben" führt auch nicht zu einem rechtswidrigen Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie.
Normenkette
BGB § 611 Abs. 1; GG Art. 9 Abs. 3 S. 1; EU-Grundrechtecharta Art. 21; BAT § 27 Abschn. A; ZPO § 256 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Brandenburg (Entscheidung vom 26.06.2012; Aktenzeichen 4 Ca 119/12) |
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Brandenburg an der Havel vom 26. Juni 2012 - 4 Ca 119/12 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass der Tenor zu 3. des Urteils des Arbeitsgerichts Brandenburg an der Havel vom 26. Juni 2012 klarstellend wie folgt neu gefasst wird:
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin ab dem 1. März 2009 nach der Vergütungsgruppe II a des Vergütungstarifvertrages Nr. 35 zum BAT-O nach der Lebensaltersstufe "nach dem vollendeten 45. Lebensjahr" zu vergüten.
II. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, welche Lebensaltersstufe der Berechnung der tariflichen Vergütung der Klägerin zu Grunde zu legen ist.
Die 1975 geborene Klägerin wurde von der Beklagten ab dem 1. Juni 2007 als Dipl. Psychologin in dem A. Fachklinikum B. eingestellt. In dem Arbeitsvertrag vom 11. Mai/1. Juni 2007 wurde u.a. vereinbart, dass die Rechte und Pflichten der Parteien dieses Vertrages sich zunächst nach dem BAT-O vom 10. Dezember 1990 in der Fassung vom 30. Juni 2000, konkretisiert durch das Weisungsrecht der Gesellschaft bestimmen. Ferner ist dort für den Fall, dass der Arbeitgeber durch Beitritt zu einem Arbeitgeberverband oder durch Abschluss eines Haustarifvertrages künftig einer Tarifbindung unterliegt, geregelt, dass ab diesem Zeitpunkt ausschließlich die Regelungen des damit für den Arbeitgeber verbindlichen Tarifvertrages in seiner jeweils gültigen Fassung Anwendung finden. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Ablichtung des Vertrages (Bl. 11 ff d.A.).
Die Beklagte hatte die Landesklinik B. am 16. Oktober 2006 im Wege des Betriebsübergangs vom Land Brandenburg übernommen. Die Beklagte hat für die bei ihr beschäftigten Ärzte Haustarifverträge abgeschlossen. Die Beklagte war und ist nicht Mitglied der Tarifgemeinschaft deutscher Länder. Zum 1. November 2006 trat der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) in Kraft.
Die Klägerin erhielt in dem Zeitraum Juni 2008 bis Oktober 2008 eine Grundvergütung nach der Vergütungsgruppe IIa nach der Lebensaltersstufe 31 nach der Anlage 1a zu § 27 BAT-O in Höhe von 1.828,49 Euro brutto und ab November 2008 nach der Lebensaltersstufe 33 in Höhe von 1.906,23 Euro brutto. Mit undatiertem Schreiben hat die Klägerin die Beklagte erfolglos zur Zahlung der Vergütungsansprüche in Höhe des Differenzbetrages zwischen der bislang gezahlten Grundvergütung nach den Lebensaltersstufen 31 bzw. 33 und der Grundvergütung nach der letzten Lebensaltersstufe rückwirkend seit Juni 2008 aufgefordert.
Mit ihrer am 1. April 2009 beim Arbeitsgericht Brandenburg an der Havel eingegangenen und der Beklagten am 9. April 2009 zugestellten Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt.
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, die Zahlung ihrer Grundvergütung nach der Lebensaltersstufe "31" bzw. "33" diskriminiere sie wegen ihres Alters. Die in § 27 BAT-O angeordnete Bemessung der Grundvergütungen in den Vergütungsgruppen nach Lebensaltersstufen verstoße gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters. Bis zur Überleitung in ein diskriminierungsfreies Entgeltsystem stehe ihr Vergütung nach der höchsten Lebensaltersstufe ihrer Vergütungsgruppe zu. Nur durch die Zahlung einer Vergütung nach der höchsten Lebensaltersstufe an die wegen ihres Alters benachteiligten Arbeitnehmer könne die Diskriminierung beseitigt werden. Dies gelte auch für die Zukunft, solange keine unionsrechtsko...