Entscheidungsstichwort (Thema)

Systematik des Günstigkeitsprinzips. Funktion des Günstigkeitsvergleichs. Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags. Vorrang der zwingenden Geltung des Tarifvertrags

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine Kollision zwischen den kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit für das Arbeitsverhältnis der Parteien normativ geltenden Tarifvorschriften und den arbeitsvertraglichen Vorschriften ist nach dem Günstigkeitsprinzip zu lösen. Hiernach treten unmittelbar und zwingend geltende Tarifvorschriften hinter einzelvertraglichen Vereinbarungen mit für den Arbeitnehmer günstigeren Bedingungen zurück.

2. Ob ein Arbeitsvertrag abweichende günstigere Regelungen gegenüber dem Tarifvertrag enthält, ist durch einen Günstigkeitsvergleich zwischen der tarifvertraglichen und der arbeitsvertraglichen Regelung zu ermitteln. Zu vergleichen sind die in einem inneren Zusammenhang stehenden Teilkomplexe der unterschiedlichen Regelungen im Rahmen eines sogenannten Sachgruppenvergleichs.

3. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Wortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können.

4. Ist objektiv nicht zweifelsfrei feststellbar, dass die vom normativ geltenden Tarifvertrag abweichende Regelung für den Arbeitnehmer günstiger ist, verbleibt es bei der zwingenden Geltung des Tarifvertrags. Dies folgt sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der systematischen Stellung des § 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG.

 

Normenkette

TVG § 4 Abs. 3; EStG § 9 Abs. 4a; BGB § 670; MTV NGG § 7 Fassung: 2012-07-24; MTV NGG § 18 Abs. 1 Fassung: 2012-07-24

 

Verfahrensgang

ArbG Neuruppin (Entscheidung vom 30.06.2021; Aktenzeichen 5 Ca 168/21)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 25.01.2023; Aktenzeichen 4 AZR 180/22)

 

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Neuruppin vom 30. Juni 2021 - 5 Ca 168/21 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

II. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über einen Anspruch auf Zahlung von Verpflegungszuschüssen.

Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem 1. August 2018 auf der Grundlage des als Anlage K1 zur Klageschrift in Ablichtung eingereichten Arbeitsvertrages (Blatt 8-11 der Akte) als Tanksammelwagenfahrer in Vollzeit beschäftigt. Seine Aufgabe besteht im Einsammeln der Rohmilch von den Milcherzeugern mit Hilfe eines dafür ausgestatteten Nutzfahrzeugs. Unter Ziffer 4 des Arbeitsvertrages heißt es auszugsweise:

"4. Vergütung

Der Arbeitnehmer erhält einen Stundenlohn von 9,36 €.

Folgende Zuschläge werden gezahlt:

[...]

Der Verpflegungszuschuss pro Tag (mind. 8 Std.) beträgt 12,00€.

[...]."

Der Kläger ist Mitglied der Gewerkschaft NGG. Diese hatte mit der Beklagten am 24. Juli 2017 einen Manteltarifvertrag (im Folgenden: MTV) geschlossen, welcher für alle Arbeitnehmer des Werks in Gransee mit Ausnahme der Fahrer im Fernverkehr galt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Anlage B2 zum Schriftsatz der Beklagten vom 10. Mai 2021 (Blatt 33 ff der Akte) Bezug genommen.

Daneben findet auf den Betrieb der Beklagten ein Lohn- und Gehaltstarifvertrag (Blatt 113ff der Akte) Anwendung, dessen bisheriger Geltungsbereich die Fahrer im Fernverkehr ebenfalls ausnahm. Am 26. Mai 2020 vereinbarte die Gewerkschaft NGG mit der Beklagten, dass ab dem 01.01.2020 auch für die Milchsammelwagenfahrer der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Beklagten gilt. Ebenfalls unter dem 26. Mai 2020 vereinbarte die Gewerkschaft NGG mit der Beklagten für das Werk der Beklagten in Gransee, welchem der Kläger angehört, eine Änderung des Lohn- und Gehaltstarifvertrages für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Mitglied der vertragsschließenden Gewerkschaft sind und als Milchsammelwagenfahrer tätig sind. § 2 des Tarifvertrages enthält folgende Regelung:

"§ 2

Vergütung

1. Ab dem 01.04.2020 beträgt die Vergütung für die Milchsammelwagenfahrer 13,00 € brutto/h.

2. Die bisherigen Regelungen hinsichtlich der Zahlung von Spesen und Anfahrten entfallen ab dem 01.04.2020 für den o.g. Personenkreis."

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Anlage B3 zum Schriftsatz der Beklagten vom 10. Mai 2021 (Bl. 46 d.A.) Bezug genommen.

Bis einschließlich März 2020 zahlte die Beklagte den bei ihr beschäftigten Milchsammelwagenfahrern den Verpflegungszuschuss bei Vorliegen der Voraussetzungen als Nettobetrag aus. Ab dem 1. April 2020 zahlte die Beklagte den bei ihr beschäftigten Fahrern den tariflichen Stundenlohn nebst Zuschlägen. Die Zahlung des Verpflegungszuschusses ...

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