Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung von Anrechnungsvorbehalten im Einzelhandel während der Tarifverhandlungen für den Berliner Einzelhandel 2007/2008. nachträgliche Tilgungsbestimmung weitgehend, aber nicht vollständig vorbehalten
Leitsatz (amtlich)
1. Ob eine Tariflohnerhöhung individualrechtlich mit einer übertariflichen Vergütung verrechnet werden kann, hängt von der zugrunde liegenden Vergütungsabrede ab. Haben die Arbeitsvertragsparteien dazu eine ausdrückliche Vereinbarung getroffen, gilt diese. Andernfalls ist aus den Umständen zu ermitteln, ob eine Befugnis zur Anrechnung besteht.
2. Danach war der durch die Beklagte (O. R. Supermarkt GmbH) übertariflich im Dezember 2007 gezahlte Betrag nicht anrechnungsfest. Die Verrechnung war einzelvertraglich zulässig. Die Beklagte hat sich eine entsprechende Tilgungsbestimmung in dem Leistungsschreiben aus Dezember 2007 wirksam vorbehalten. Der Vorbehalt genügt den Anforderungen der §§ 305 ff. BGB.
3. Die durch die Beklagte „unabhängig vom Ausgang der Tarifverhandlungen” ab März 2008 gezahlte zwei- später zweieinhalbprozentige Vergütungserhöhung ging in Höhe von 27,48 Euro über das hinaus, was die Tarifvertragsparteien für diesen Zeitraum durch § 6a GTV später vorgesehen haben. Dieser (weitergehende) Betrag stand zur Tilgung des Anspruchs der Klägerin aus § 6a GTV für die Zeit bis Februar 2008 nicht zur Verfügung. Insoweit hat sich die Beklagte eine rückwirkende Tilgungsbestimmung im Schreiben vom 11. März 2008 nicht vorbehalten.
Normenkette
BGB § 305 ff.; Tarifvertrag über Gehälter, Löhne und Ausbildungsvergütungen für den Berliner Einzelhandel vom 4. September 2008 (GTV) § 6a T
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Urteil vom 03.08.2009; Aktenzeichen 19 Ca 7288/09) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 03.08.2009 – 19 Ca 7288/09 – unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 27,48 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.04.2009 zu zahlen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin zu 83 v. H. und die Beklagte zu 17 v. H. zu tragen.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Zulässigkeit der Anrechnung übertariflicher Zahlungen auf spätere rückwirkende Tariflohnerhöhungen.
Die Klägerin ist bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerin seit 1996 als Kassiererin beschäftigt und Mitglied der Gewerkschaft ver.di. In den Jahren 2007 und 2008 führten die Tarifpartner des Einzelhandels zähe und lang andauernde Tarifverhandlungen. Im Dezember 2007 zahlte die Beklagte an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 129,73 Euro brutto. Über den Hintergrund dieser Zahlung informierte sie die Belegschaft zeitgleich mit einem Schreiben, in dem es ua. heißt:
„…, die Verhandlungen in der diesjährigen Tarifrunde gestalten sich schwierig, weil bisher noch keine Annäherung der gegensätzlichen Positionen zu den Zuschlagsregelungen für Tätigkeiten im Verkauf (Spätöffnungs-, Samstags-, Nachtzuschläge) erreicht werden konnte. … Wir möchten nicht, dass dieser Verhandlungsmarathon auf Ihrem Rücken ausgetragen wird, und haben uns daher zu einer Überbrückungszahlung entschlossen. Unabhängig vom weiteren Fortgang der Tarifverhandlung erhalten Sie mit der Abrechnung des Monats Dezember eine Einmalzahlung, die Sie zum Jahresende sicherlich gut gebrauchen können. … Sie erhalten unter der Voraussetzung, dass in Ihrem Beschäftigungsverhältnis ein voller Anspruch auf Entgelt, Entgeltfortzahlung und Zuschuss zum Mutterschaftsgeld besteht, im Dezember eine freiwillige anrechenbare Einmalzahlung in Höhe von 200,00 EUR bei Vollzeitkräften (bei Teilzeitkräften anteilig), Auszubildende erhalten 50,00 EUR. Diese Überbrückungszahlung wird mit der Abrechnung für den Monat Dezember an Sie ausgezahlt. … Die Zahlung kann auf künftig vereinbarte tarifliche Leistungen im vollen Umfang angerechnet werden. Wir hoffen, dass diese Überbrückungszahlung auch als Signal verstanden wird und die Tarifpartner sich bald zu Tarifverhandlungen wieder zusammenfinden…”
In einem an alle Belegschaftsmitglieder gerichteten Schreiben der tarifgebundenen Beklagten vom 11. März 2008 hieß es sodann unter der Überschrift „Freiwillige anrechenbare Tariferhöhung ab 1. März 2008”:
„…, die Verhandlungen gestalten sich weiterhin schwierig. … Wir möchten nicht, dass dieser Verhandlungsmarathon auf Ihrem Rücken ausgetragen wird, und haben uns daher zu einer freiwilligen anrechenbaren Tariferhöhung entschlossen. Unabhängig vom weiteren Fortgang der Tarifverhandlung werden wir Ihnen ab 1. März 2008 eine freiwillige anrechenbare Tariferhöhung in Höhe von 2 % gewähren. Diese freiwillige Tariferhöhung ist auf bestehende übertarifliche Entgeltbestandteile sowie auf zukünftig vereinbarte tarifliche Leistungen im vollen Umfang anrechenbar. Wir hoffen, dass diese freiwillige anrechenbare Tariferhöhung auch als Signal verstanden wird und die Tarifvertragsparteie...