Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfähigkeit bei chronischer Erkrankung. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bei unzureichenden Darlegungen der Arbeitgeberin zum Anspruchsausschluss aufgrund Fortsetzungserkrankung
Leitsatz (amtlich)
Eine Vorerkrankung, die lediglich zu einer bereits auf einer anderen Erkrankung beruhenden Arbeitsunfähigkeit hinzutritt ohne selbst einen Entgeltanspruch auszulösen ist nicht als Fortsetzungserkrankung bei der Berechnung des 6wöchigen Entgeltfortzahlungszeitraumes des § 3 Abs. 1 EZFG zu berücksichtigen.
Leitsatz (redaktionell)
Leitsätze der Redaktion:
1. Allein der Umstand, dass die Arbeitnehmerin bereits während einer ersten Arbeitsunfähigkeit aufgrund eines Wegeunfalls (auch) an Multipler Sklerose erkrankt war, begründet nicht die Annahme einer Fortsetzungserkrankung; allein die Diagnose der (chronischen Erkrankung) Multiplen Sklerose begründet ebenso wenig die Annahme einer darauf beruhenden Arbeitsunfähigkeit wie die Diagnose anderer chronischen Erkrankungen.
2. Krankheit im medizinischen Sinne ist jeder regelwidrige körperliche oder geistige Zustand; Krankheit ist nicht gleichzusetzen ist mit Arbeitsunfähigkeit.
3. Arbeitsunfähig infolge Krankheit ist die Arbeitnehmerin dann, wenn ein Krankheitsgeschehen sie außer Stand setzt, die ihr nach dem Arbeitsvertrag obliegende Arbeit zu verrichten, oder wenn sie die Arbeit nur unter der Gefahr fortsetzen könnte, in absehbar naher Zeit ihren Zustand zu verschlimmern.
Normenkette
EFZG § 3 Abs. 1, 1 S. 1
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 21.10.2014; Aktenzeichen 8 Ca 11633/13) |
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 21.10.2014 - 8 Ca 11633/13 - wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten der Berufung zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Zusammenhang mit dem von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Entgeltfortzahlung für den Zeitraum ihrer Arbeitsunfähigkeit vom 4. April 2013 bis zum 16. Mai 2013 darüber, ob es sich bei der Erkrankung der Klägerin in diesem Zeitraum um eine Fortsetzungserkrankung handelt.
Die Klägerin ist seit dem 17. Dezember 2007 bei der Beklagten als Krankenschwester zu einem Stundenbruttolohn in Höhe von 12,89 € mit 38,5 Wochenstunden beschäftigt.
Die Klägerin erlitt am 9. August 2012 einen Wegeunfall, aufgrund dessen sie seit dem 10. August 2012 arbeitsunfähig war. Die Bescheinigung der T. Krankenkasse, der Krankenkasse der Klägerin, vom 22. Mai 2013 weist eine Arbeitsunfähigkeit vom 10. August 2012 bis zum 7. März 2013 aus. Als Diagnose weist die Bescheinigung eine Verstauchung und Zerrung der Lenden- sowie der Halswirbelsäule, einen Tinnitus aurium und sonstige "näher bezeichnete" Hypothyreose aus. Weiter ist in der Diagnose festgehalten: "Erstmanifestation einer multiplen Sklerose". Weiter weist die Bescheinigung einen Arbeitsunfähigkeitszeitraum vom 8. März 2013 bis zum 28. März 2013 mit der Diagnose "Verstauchung und Zerrung der Halswirbelsäule" aus.
Seit November 2012 befindet sich die Klägerin wegen ihrer Multiplen Sklerose in der Behandlung des Arztes für Neurologie und Psychiatrie, Herrn R. H.. Im September 2012 teilte die Klägerin dem Geschäftsführer der Beklagten die Diagnose "Multiple Sklerose" mit. Im Rahmen eines Wiedereingliederungsgespräches am 3. Dezember 2012 äußerte die Klägerin, dass sie zur Führung eines Kraftfahrzeuges nicht in der Lage sei. In einer SMS vom 27. März 2013 an eine Mitarbeiterin der Beklagten teilte die Klägerin mit, "die volle Dosis erreicht" zu haben und ab demselben Tag Physiotherapie zu erhalten.
In der Zeit vom 29. März bis zum 3. April 2013 war die Klägerin weder arbeitsunfähig geschrieben, noch ging sie ihrer Arbeit nach, sondern fehlte stattdessen unentschuldigt an zwei Tagen. Anschließend war die Klägerin erneut für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 4. April 2013 bis zum 28. Mai 2013 arbeitsunfähig krankgeschrieben, diesmal wegen der Multiplen Sklerose mit vorherrschend schubförmigem Verlauf. Ausgestellt wurde die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von dem die Klägerin wegen ihrer Multiplen Sklerose behandelnden Arzt, R. H.. Am 7. Mai 2013 forderte die Beklagte die Klägerin auf, für den Zeitraum vom 28. März bis zum 3. April 2013 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beizubringen, was erfolglos blieb, wie die Klägerin der Beklagten am 8. Mai 2013 mitteilte.
Die Klägerin hat behauptet, in dem Zeitraum vom 10. August 2012 bis zum 28. März 2013 nicht aufgrund ihrer Multiplen Sklerose arbeitsunfähig erkrankt gewesen zu sein. Für den Zeitraum bis zum 7. März 2013 sei die Multiple Sklerose lediglich als Erstmanifestation diagnostiziert worden, ohne dass zur Arbeitsunfähigkeit selbst führende Krankheitsschübe aufgrund der Multiplen Sklerose vorgelegen hätten. Dies folge zum einen aus den unterschiedlichen Diagnoseschlüsseln G350 für die Erstmanifestation und G3510 für die zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankung der Multiplen Sklerose und zum anderen daraus, ...