Entscheidungsstichwort (Thema)
Massenentlassungen im Bereich der Fluggastabfertigung. Unwirksame Massenentlassungsanzeige bei unterlassenem Verhandlungsangebot und fehlender Stellungnahme des Betriebsrats
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein mit den Worten "Information gemäß § 17 Abs. 2 KSchG" überschriebenes Schreiben mit dem einleitenden Satz: "Wir möchten Sie noch einmal formal gemäß § 17 Abs. 2 KSchG wie folgt unterrichten:" nebst Benennung der beabsichtigten Betriebsschließung sowie der Anzahl der zu entlassenden Beschäftigten behandelt mit den Schlüsselworten "Information", "Unterrichtung" bereits nach dem Wortlaut allein die in § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG vorgesehene Unterrichtung des Betriebsrats. Fehlt eine darüber hinausgehende deutlich formulierte Aufforderung, werden dem Betriebsrats keine Beratungen im Sinne des § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG angeboten.
2. Der Konsultationsanspruch gemäß Art. 2 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 59/1998/EG vom 20.07.1998 und damit gemäß § 17 KSchG ist nur erfüllt, wenn die Arbeitgeberin mit dem ernsten Willen zur Einigung verhandelt oder Verhandlungen angeboten hat. Das Beratungsangebot der Arbeitgeberin an den Betriebsrat muss sich auch darauf beziehen, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken, und nicht nur darauf, solche in ihren Auswirkungen zu mildern.
3. Die nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG beizufügende Stellungnahme muss sich auf das Ergebnis der nach § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG erforderlichen Beratungen über die Möglichkeiten beziehen, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern. Obwohl § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG keine expliziten Aussagen zum erforderlichen Inhalt der Stellungnahme des Betriebsrats trifft und die Arbeitgeberin diesen Inhalt nicht beeinflussen kann, genügt nicht jede Äußerung des Betriebsrats den gesetzlichen Anforderungen.
4. Um der Agentur für Arbeit Auskunft darüber geben zu können, ob und welche Möglichkeiten der Betriebsrat sieht, die angezeigten Kündigungen zu vermeiden, und zugleich zu belegen, dass soziale Maßnahmen mit ihm beraten und gegebenenfalls getroffen worden sind, muss sich der Betriebsrat in einer Weise äußern, die erkennen lässt, dass er seine Beteiligungsrechte als gewahrt ansieht und dass es sich um eine abschließende Erklärung zu den von der Arbeitgeberin beabsichtigten Kündigungen handelt. Dafür reicht auch die eindeutige Mitteilung aus, keine Stellung nehmen zu wollen.
Normenkette
KSchG §§ 17, 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 3, § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 Sätze 1-2, Abs. 3 S. 2; BGB § 134; BetrVG § 111; EGRL 59/1998 Art. 2 Abs. 1 Fassung: 1998-07-20, Abs. 2 Fassung: 1998-07-20
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 10.06.2015; Aktenzeichen 20 Ca 1407/15) |
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 10.06.2015 - 20 Ca 1407/15 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
II. Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Wesentlichen um die Wirksamkeit einer Kündigung der Beklagten.
Die am....... 1972 geborene Klägerin war seit dem 1. September 1988 bei der Beklagten bzw. ihren Rechtsvorgängern als "Senior Agent Fluggastabfertigung" zu einem Bruttomonatsverdienst in Höhe von 2.793,88 € brutto beschäftigt.
Die Fluggastabfertigungsdienstleistungen an den Flughäfen T. und Sch. wurden jahrelang von der G. Berlin GmbH & Co. KG (im Folgenden: GGB) erbracht. Die Gesellschaftsanteile an diesem Unternehmen wurden 2008 durch die W.-Gruppe übernommen. Seitdem kam es zu diversen gesellschaftsrechtlichen Umorganisationen, u.a. zu einer Trennung der GGB in vier Geschäftsbereiche. Der Bereich "Passage" wurde durch die Beklagte erbracht. Komplementärin der Beklagten ist die P. S. Berlin Beteiligungs-GmbH, einzige Kommanditistin die GGB. Deren Kommanditanteile werden von einem Unternehmen der W.-Gruppe gehalten.
Die Arbeitsverhältnisse der in dem Bereich Fluggastabfertigung tätigen Arbeitnehmer gingen im Jahr 2012 auf die Beklagte über. Hinsichtlich der Passagierabfertigungsdienstleistungen am Flughafen Sch. ging ein Großteil der Arbeitsverhältnisse im Juli 2014 auf ein anderes Unternehmen, die P. S. Sch. GmbH & Co. KG, über. Die Arbeitsverhältnisse der am Flughafen T. beschäftigten Arbeitnehmer verblieben überwiegend bei der Beklagten.
Die GGB als einzige Auftraggeberin der Beklagten kündigte im September 2014 sämtliche noch vorhandenen Aufträge der Beklagten aus dem Bereich Check-In zu Anfang November 2014, die übrigen Aufträge zum 31.03.2015. Die GGB als allein stimmberechtigte Gesellschafterin der Beklagten fasste am 22.09.2014 die Absicht, den Betrieb der Beklagten zum 31.03.2015 stillzulegen und die dem Betriebszweck dienende Organisation zu diesem Termin vollständig aufzulösen (vgl. dazu den Beschluss Bl. 33 d. A.). Der Geschäftsführer der Beklagten wurde von der GGB angewiesen, die erforderlichen Maßnahmen durchzuführen und mit dem Betriebsrat Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs aufzunehmen.
Nach Sitzungen mit dem Betriebsrat am 25.09. und 07.10....