Entscheidungsstichwort (Thema)
Fristlose Kündigung bei Nichterkennen lebensbedrohlicher Situation einer Patientin. Auflösungsantrag bei Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses wegen ehrverletzenden Äußerungen
Leitsatz (redaktionell)
1. Die unterlassene Information der Fachkrankenschwester an die diensthabende Ärztin, ein Patient befinde sich in einer potentiell lebensbedrohlichen Lage - hier schwere Hyperkalämie - ist eine schwere Pflichtverletzung und rechtfertigt dem Grunde nach eine fristlose Kündigung.
2. Ehrverletzende Äußerungen im Arbeitsverhältnis begründen einen Auflösungsantrag.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1, § 241 Abs. 2; KSchG § 1 Abs. 1, § 9 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 27.02.2020; Aktenzeichen 27 Ca 11665/18) |
Tenor
I.
Das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 27.02.2020 - 27 Ca 11665/18 - wird auf die Berufung der Klägerin und unter Zurückweisung ihrer Berufung im Übrigen teilweise abgeändert und zu Klarstellung insgesamt wie folgt neu gefasst:
I. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 11.08.2018 weder außerordentlich und fristlos zum 11.08.2018 noch fristgemäß zum 31.03.2018 aufgelöst worden ist.
II. Das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis wird zum 31.03.2019 aufgelöst und die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine Abfindung in Höhe von 28.292,92 Euro zu zahlen.
III. Die Beklagte wird verurteilt, die Abmahnung vom 08.06.2017 ersatzlos aus der über die Klägerin geführten Personalakte zu entfernen.
IV. Die Beklagte wird verurteilt, die Abmahnung vom 27.06.2018 ersatzlos aus der über die Klägerin geführten Personalakte zu entfernen.
V. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ein qualifiziertes Arbeitszeugnis zu erteilen.
VI. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 27.02.2020 - 27 Ca 11665/18 - wird als unzulässig verworfen, soweit sich diese auf den Tenor zu II. bis IV. des Urteils bezieht. Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
III.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
V.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten zuletzt über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung, zwei Abmahnungen sowie die Auflösung des Arbeitsverhältnisses.
Die im August 2018 54 Jahre alte Klägerin ist Fachkrankenschwester für Dialyse und Nephrologie und seit dem 01.05.1998 bei der Beklagten beziehungsweise deren Rechtsvorgängerin als Kranken- und Gesundheitspflegerin beschäftigt. Die Beklagte betreibt eine Dialysepraxis an mehreren Standorten und beschäftigt regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer*innen. Zu den Aufgaben der Klägerin gehört es, nach Beurteilung des Gesundheitszustandes der Patienten entsprechend der ärztlichen Verordnung Dialysen durchzuführen. Zuletzt stand ihr ein Bruttomonatsgehalt in Höhe von durchschnittlich 2.705,25 Euro zu.
Die Beklagte erteilte der Klägerin die Abmahnungen vom 08.06.2017 (Blatt 101 f der Akte) und vom 27.06.2018 (Blatt 103 der Akte) mit den Vorwürfen, die Klägerin habe sich geweigert, eine Auszubildende einzuarbeiten und ihr Privatfahrzeug auf einem Patientenparkplatz abgestellt. Ferner führten die Parteien 2018 einen Rechtsstreit über Vergütungsansprüche.
Die Zeugin war bis mindestens Juli 2018 Patientin der Beklagten. In bei ihr durch die Beklagte abgenommenen Blutproben wurde durch ein Labor am 06.02.2017 ein Kaliumwert von 7,42 mmol/l, am 06.03.2017 von 7,48 mmol/l, am 12.06.2017 von 8,58 mmol/l und am 07.08.2017 von 7,51 mmol/l gemessen. Der Normalwert liegt zwischen 3,5 mmol/l und 5,0 mmol/l. Am 30.07.2018 erschien die Zeugin spätestens gegen 16.30 Uhr planmäßig zur Dialyse, welche die Klägerin durchzuführe hatte. Die Zeugin bat die Klägerin, mittels eines in den Praxisräumen vorhandenen Blutgasanalysegerätes den Kaliumwert in ihrem Blut zu messen. Sonstige Angaben der Zeugin zu ihrem Gesundheitszustand sind streitig. Die Klägerin begann mit Durchführung der Dialyse mit dem verordneten Kaliumkonzentrat 2.0, dass zum Abbau hoher Kaliumwerte geeignet ist und führte sodann die Blutgasanalyse durch, die einen Kaliumwert von 8,11 mmol/l ergab. Die zu diesem Zeitpunkt in den Praxisräumen anwesende diensthabende Ärztin und Geschäftsführerin der Beklagten informierte sie darüber nicht. Wegen eines technischen Defekts des Blutgasanalysegerätes wurde dieser Wert nicht in die elektronische Patientenakte übernommen. Daneben hatte die Klägerin den Wert in einem handschriftlich geführten Behandlungsprotokoll einzutragen. Bei einer routinemäßigen Visite teilte die Zeugin der Geschäftsführerin der Beklagten am Abend den nachmittags gemessenen Kaliumwert mit. Bei einer um 20.15 Uhr durchgeführten erneuten Blutgasanalyse wurde ein Kaliumwert von 4,28 mmol/l gemessen. Um 21.10 Uhr berichtete die Klägerin der Geschäftsführerin von dem am Nachmittag gemessenen Kaliumwert.
Vom 01.08.2018 bis 03.08....