Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Ablösung durch betriebliche Übung begründeter Ansprüche auf Sozialleistungen durch Betriebsvereinbarung über betriebliche Altersversorgung (kollektiver Günstigkeitsvergleich)
Leitsatz (redaktionell)
1. Durch betriebliche Übung begründete vertragliche Ansprüche auf Sozialleistungen können nicht nur durch vertragliche Vereinbarung oder wirksame Änderungskündigung beseitigt, sondern auch durch Betriebsvereinbarung abgelöst werden.
2. Die betriebliche Übung ist ebenso wie die vertragliche Einheitsregelung und die Gesamtzusage ein individualrechtliches Gestaltungsmittel mit kollektivem Bezug. Für ihr Verhältnis zu einer nachfolgenden Betriebsvereinbarung gilt nicht das Ablösungsprinzip, sondern grundsätzlich ein modifiziertes Günstigkeitsprinzip.
3. Ein kollektiver Günstigkeitsvergleich ist nur dann erforderlich, wenn Ansprüche auf freiwillige Sozialleistungen sowohl im einzelnen Arbeitsvertrag als auch in der Betriebsvereinbarung geregelt sind.
Normenkette
BGB §§ 242, 308 Nr. 5; BetrVG § 77 IV S. 1; BGB § 307 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
ArbG Neuruppin (Urteil vom 26.11.2009; Aktenzeichen 3 Ca 987/09) |
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Neuruppin vom 26.11.2009 – 3 Ca 987/09 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
II. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um ein Treuegeld für das Jahr 2009.
Der Kläger ist seit dem 01.09.1962 bei der Beklagten bzw. ihren Rechtsvorgängerinnen in deren Betrieb in H. beschäftigt.
Bis zum Ende des Jahres 2003 wandte die Beklagte auf die Arbeitsverhältnisse der bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer vorbehaltlos die Musterbetriebsordnung der A.-Tochtergesellschaften in den Neuen Bundesländern vom Juli 1994 (künftig: MuBO) an, ohne dass es in dem Betrieb in H. zum Abschluss einer dieser entsprechenden Betriebsvereinbarung gekommen war. Die MBO sah unter Punkt 6.14 die Zahlung von Jubiläumsgeldern und unter Punkt 6.16 ab dem 20. Dienstjahr einmal jährlich mit der Mai-Abrechnung die Zahlung eines Treuegeldes vor, das ab dem 41. Dienstjahr – zuletzt nach der mit dem Gesamtbetriebsrat abgeschlossenen Betriebsvereinbarung Nr. 86.1 „Rundung auf glatte Eurobeträge” – 300,00 EUR betrug. Auch der Kläger erhielt seit 1994 entsprechende Treuegeld-Zahlungen.
Seit dem Jahre 2004 wandte die Beklagte die MuBO nicht mehr an und stellte die Zahlung von Jubiläums- und Treuegeldern ein, nachdem sie mit Schreiben vom 25.06.2003 (Bl. 89 d. A.) dem Betriebsrat die „Kündigung der A. Betriebsordnung” erklärt hatte. In diesem Schreiben heisst es u.a.:
„Die unterschiedlichen Regelungen unserer freiwilligen Sozialleistungen führen in ihrer kaum noch zu überblickenden Vielfalt zu einer nicht mehr hinnehmbaren Ungleichbehandlung unserer Mitarbeiter an den B.- Standorten.
Es ist das erklärte Ziel vom B., ein Sozialleistungssystem zu installieren, welches den Anforderungen der heutigen Arbeitswelt und den Bedürfnissen der Mitarbeiter besser Rechnung trägt. …”
Eine Vielzahl der Mitarbeiter der Beklagten klagte in den Folgejahren die Treuegelder gegenüber der Beklagten ein, nicht jedoch der Kläger.
Am 01.01.2008 trat für sämtliche Betriebe der Beklagten die am 12.12.2007 abgeschlossene Gesamtbetriebsvereinbarung Nr. 19 „Pensionsplan B. Transportation Deutschland” zur betrieblichen Altersversorgung (Bl. 90 bis 105 d. A.) in Kraft.
Mit Schreiben vom 21.06.2009 (Bl. 6 d. A.) machte der Kläger die Zahlung von Treuegeld geltend, was die Beklagte mit Schreiben vom 06.07.2009 (Bl. 5 d. A.) ablehnte.
Mit der am 23.07.2009 beim Arbeitsgericht Neuruppin eingegangenen Klage hat der Kläger die Zahlung von Treuegeld für das Jahr 2009 in Höhe von 300,00 EUR nebst Zinsen verlangt.
Er hat gemeint, ihm stehe für seine 46-jährige Dienstzeit ein Anspruch auf Treuegeld aus betrieblicher Übung zu. Allein durch die Nichtzahlung des Treuegeldes in den Jahren 2004 bis 2006 sei keine negative betriebliche Übung entstanden.
Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, dass ihre in der Vergangenheit durch Betriebsübung begründete Verpflichtung zur Zahlung des Treuegeldes durch eine negative Betriebsübung, nämlich die Nichtzahlung von Treue- und Jubiläumsgeldern über einen Zeitraum von drei Jahren, beseitigt worden sei.
Das Arbeitsgericht Neuruppin hat die Beklagte mit Urteil vom 26.11.2009 – 3 Ca 987/09 –, auf dessen Tatbestand (Bl. 32/ 33 d. A.) wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Vortrags der Parteien Bezug genommen wird, verurteilt, an den Kläger 300,00 EUR brutto nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 01.07.2009 zu zahlen.
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Anspruch des Klägers ergebe sich dem Grunde nach aus betrieblicher Übung und sei nicht durch eine negative betriebliche Übung beendet worden. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils (Bl. 47 bis 50 d. A.) Bezug genommen.
Gegen dieses, der Beklagten am 16.12.2009 zugestellte Urteil richtet sich die vom Arbei...