Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Berufungsbegründung. Betriebsbedingte Kündigung i.S.d. § 1 Abs. 2 KSChG. Dauerhafter Personalüberhang als Kündigungsgrund. Interessenausgleich als Privaturkunde i.S.d § 416 ZPO. Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen. Kündigungsschutz bei Massenentlassungen
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Berufungsbegründung muss die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergeben. Sie muss auf den zur Entscheidung stehenden Fall zugeschnitten sein und sich mit den rechtlichen und tatsächlichen Argumenten des angefochtenen Urteils befassen. Bloße formelhafte Wendungen oder Wiederholungen bisherigen Vorbringens reichen nicht aus.
2. Dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG liegen vor, wenn die Umsetzung einer unternehmerischen (Organisations-)Entscheidung auf der betrieblichen Ebene spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist zu einem voraussichtlich dauerhaften Wegfall des Bedarfs an einer Beschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers führt. Diese Prognose muss schon im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung objektiv berechtigt sein.
3. Reduziert eine Fluggesellschaft die Zahl ihrer Flugzeuge erheblich ("Ausflottung"), kann ein dauerhafter Personalüberhang entstehen, der betriebsbedingte Kündigungen rechtfertigt.
4. Der Interessenausgleich stellt eine Privaturkunde dar (§ 416 ZPO). Sie kann nach § 256 ZPO vom Gericht bei der Feststellung zum tatsächlichen Entscheidungsvorgang herangezogen werden.
5. Der Kreis der in die soziale Auswahl einzubeziehenden vergleichbaren Arbeitnehmer bestimmt sich in erster Linie nach arbeitsplatzbezogenen Merkmalen. Darüber hinaus können weitere Kriterien in einem Punkteschema niedergelegt werden.
6. Der in § 17 KSchG geregelte besondere Kündigungsschutz bei Massenentlassungen unterfällt in zwei getrennt durchzuführende Verfahren mit jeweils eigenen Wirksamkeitsvoraussetzungen, nämlich die in § 17 Abs. 2 KSchG normierte Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats einerseits und die in § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG geregelte Anzeigepflicht gegenüber der Agentur für Arbeit andererseits. Das Konsultationsverfahren steht selbstständig neben dem Anzeigeverfahren.
Normenkette
ZPO § 286 Abs. 1, §§ 416, 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2; KSchG § 1 Abs. 1-3, § 17; BGB § 134; BetrVG § 102 Abs. 1, §§ 111, 117 Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 28.10.2021; Aktenzeichen 41 Ca 16378/20) |
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 28. Oktober 2021 - 41 Ca 16378/20 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
II. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung, einen allgemeinen Feststellungsantrag, einen Anspruch auf Erteilung eines Zwischenzeugnisses und einen Weiterbeschäftigungsantrag.
Die Beklagte ist eine Fluggesellschaft mit Sitz in G., die günstige Flüge innerhalb Europas und den angrenzenden Staaten anbietet und damit im Low-Cost-Segment agiert. Sie betreibt in Europa mehrere Stationen. Mit Eröffnung des Flughafens B. am 31. Oktober 2020 und der Einstellung der bisherigen Base am Flughafen T. und der Verlegung der Base am Flughafen S. betreibt die Beklagte am B. die einzige Station in Deutschland mit im November 2020 insgesamt 1.482 Beschäftigten des fliegenden Personals.
Der am ... 1986 geborene, verheiratete und einem Kind unterhalsverpflichtete Kläger ist auf der Grundlage des Arbeitsvertrages vom 5. Oktober 2018 seit dem 3. Dezember 2018 als Kapitän bei der Beklagten beschäftigt.
Bei der Beklagten existiert eine Personalvertretung für das fliegende Personal, die aufgrund des gemäß § 117 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) geschlossenen Tarifvertrages Personalvertretung Nr. 3 für das Cockpit- und Kabinenpersonal von e. vom 7. Februar 2018 (im Folgenden: TV PV Nr. 3) gewählt wurde.
Seit dem 1. April 2020 wurde aufgrund mehrerer Betriebsvereinbarungen mehrfach verlängerte Kurzarbeit für die Beschäftigten des fliegenden Personals der Stationen T. und S. und zuletzt B. durchgeführt.
Als Teil einer europaweiten Maßnahme (Projekt B.) plante die Beklagte unter Vorbehalt der Beteiligung der Personalvertretung der Anzahl der in Deutschland stationierten Flugzeuge von 34 um 16 auf 18 zu verringern. Die Planung wurde am 23. Juni 2020 vom Steuerungskomitee (steering commitee) bestätigt. Hierüber unterrichtete die Beklagte die Personalvertretung mit Schreiben vom 30. Juni 2020 (Anlage v. 5), in dem die Planung eines Personalabbaus von bis zu 738 Beschäftigten mitgeteilt wurde und das auch der Aufforderung zur Aufnahme von Interessenausgleichsverhandlungen und des Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) dienen sollte.
In der Folgezeit verhandelte die Beklagte mit der Personalvertretung über einen Interessenausgleich und Sozialplan. Am 14. Oktober 2020 einigten sie sich auf die wesentlichen Eckpunkte, am 21. ...