Entscheidungsstichwort (Thema)
Zweck der Massenentlassungsanzeige des § 17 KSchG und des Art. 4 Abs. 1 MERL. Betriebsbedingte Kündigung i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Kein dauerhafter Personalüberhang bei Kurzarbeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Zweck der Massenentlassungsanzeige besteht darin, es der zuständigen Behörde zu ermöglichen, innerhalb der Frist des Art. 4 Abs. 1 der Massenentlassungsrichtlinie (MERL), die grundsätzlich 30 Tage beträgt, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen.
2. Eine Kündigung ist im Sinn von § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt, wenn der Bedarf für eine Weiterbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers im Betrieb voraussichtlich dauerhaft entfallen ist. Dazu müssen im Tätigkeitsbereich des Gekündigten mehr Arbeitnehmer beschäftigt sein, als zur Erledigung der zukünftig anfallenden Arbeiten benötigt werden.
3. Besteht nach einer "Ausflottung" einer erheblichen Zahl von Flugzeugen zwar ein Personalüberhang, befinden sich die Beschäftigten dann jedoch in Kurzarbeit, kann nicht von einem "dauerhaften" Personalüberhang ausgegangen werden. Denn mit der Kurzarbeit wird nur ein vorübergehender Beschäftigungsmangel abgefedert.
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 1-2, § 17; BGB § 134; BetrVG § 117 Abs. 2; MERL Art. 2 Abs. 3, Art. 4 Abs. 1; SGB III § 96 Abs. 3
Verfahrensgang
ArbG Cottbus (Entscheidung vom 03.11.2021; Aktenzeichen 2 Ca 643/21) |
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Cottbus vom 3. November 2021 - 2 Ca 643/21 wird zurückgewiesen.
II. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
III. Der Gebührenwert für das Berufungsverfahren wird auf 56.560,00 EUR festgesetzt.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung sowie die Weiterbeschäftigung des Klägers.
Der Kläger ist 60 Jahre alt (geb. .... 1962) verheiratet und hat zwei Kinder. Er ist seit dem 8. Januar 2018 bei der Beklagten gegen ein monatliches Bruttoentgelt von durchschnittlich ..... Euro als Flugkapitän beschäftigt.
Die Beklagte ist eine Fluggesellschaft mit über zehn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern (im Folgenden: Arbeitnehmer) und einer Station (Base) am Flughafen Berlin-Brandenburg (BER). Diese einzige Station der Beklagten in Deutschland ist dem Kläger als Homebase - Heimatbasis - zugeordnet. Auf der Grundlage des mit der Gewerkschaft ver.di abgeschlossenen Tarifvertrag Personalvertretung Nr. 3 für das Cockpit- und Kabinenpersonal ist bei der Beklagten eine Personalvertretung gebildet. Eine Flugzeugbesatzung besteht bei der Beklagten aus Captain, First Officer, Cabin Manager und drei Flight Attendant.
Aufgrund der Pandemie befanden sich Beschäftigte der Beklagten in Deutschland beginnend ab April 2020 in Kurzarbeit. Die Beklagte nahm im Juni 2020 Planungen zu Änderungen im Unternehmen auf ("Project Butterfly"). Dies betraf u.a. die Anzahl der an Flughäfen stationierten Flugzeuge. Im Hinblick hierauf nahm die Beklagte mit der Personalvertretung Verhandlungen zu einem Interessenausgleich auf.
Mit einer führungskräfteinternen E-Mail vom 17. Oktober 2020 erklärte Herr D. - Mitglied der entscheidenden Steer Co - gegenüber Herrn O.:
"If wie use the 320 figure in these documents rather than the 300/200 and we know internally that this figure is in reality c270 then it works, especially if we have identified additional savings which A. can help us with on Monday perhaps." (- "Wenn wir in diesen Dokumenten statt 300/200 die Zahl 320 verwenden und intern wissen, dass diese Zahl in Wirklichkeit 270 ist, dann funktioniert dies, insbesondere, wenn wir zusätzliche Einsparungen identifiziert haben, bei denen A. uns vielleicht am Montag helfen kann").
Am 21. Oktober 2020 schlossen die Beklagte und die Personalvertretung einen Interessenausgleich und einen Sozialplan. In dem Interessenausgleich ist unter anderen geregelt:
"Gegenstand dieses Interessenausgleichs ist die Herausnahme / Verlegung von 16 Flugzeugen aus der e. Base BER (nachfolgend "BER") mit Wirkung ab Dezember 2020 sowie der damit unmittelbar in 2020 verbundene Abbau bzw. zu prüfende etwaige spätere Abbau (ab Juni 2021) von Arbeitsplätzen in Cockpit und Kabine. ...
Nunmehr hat sich die Planung dahingehend konkretisiert, dass sich die Anzahl der Flugzeuge tatsächlich um 16 Flugzeuge auf insgesamt 18 Flugzeuge in BER reduzieren soll, dass (i) die Anzahl der unmittelbar in 2020 abzubauenden Stellen nach derzeitiger Einschätzung aber zunächst bis zu 418 Positionen (Personen) betragen wird (...) und (ii) hinsichtlich bis zu 320 weiterer Positionen (Personen) erst ca. im Mai/Juni 2021 auf der Basis der Nachfrage und wirtschaftlichen Entwicklung von e. zu prüfen und zu entscheiden sein wird, ob auch insoweit kein Beschäftigungsbedarf mehr besteht und auch diese Positionen ab dann abzubauen sind. ...
Hinsichtlich bis zu 320 weiterer Positionen:
• 58 Kapitäne (inkl. mit Zusatzfunktionen)
• 5...