Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirksamkeit der Kündigung bei Betriebsstilllegung eines Luftverkehrbetriebes. Unwirksamkeit der Kündigung bei Betriebsübergang. Kündigung während Elternzeit. Abgrenzung zwischen Betriebsstilllegung und Betriebsübergang. Wirtschaftliche Einheit bei einem Luftverkehrsbetrieb. Massenentlassungsanzeige und Interessenausgleich bei Kündigung. Zuständiges Arbeitsamt für Massenentlassungsanzeige
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Prüfung, ob eine wirtschaftliche Einheit im Sinne der Betriebsübergangsrichtlinie übergegangen ist, ist zuerst zu prüfen, ob eine bestimmte Einheit als "wirtschaftliche Einheit organisiert war", was Sache des nationalen Gerichts ist. Erst danach schließt sich die Prüfung an, ob die Voraussetzungen für den Übergang einer solchen Einheit erfüllt sind (EuGH 10.12.1998 - verb Rs. C-173/96 u. C-247/96 - Hidalgo u.a. - Rn 28f).
2. Die wirtschaftliche Einheit muss vor dem Übergang insbesondere über eine ausreichende funktionelle Autonomie bezogen auf die Leitung der Arbeitnehmergruppe verfügen (EuGH 06.03.2014 - C-458/12 - Amatori Rn. 31f).
3. Auch wenn vorliegend mit der Stilllegung des Flugbetriebes durch die Freistellung und Kündigung von über 1.300 Pilotinnen und Piloten schon im November 2017 begonnen wurde, werden ausnahmsweise Nachteilsansprüche deswegen nicht begründet, da es zu dem "Ob" der Betriebsstilllegung zu diesem Zeitpunkt keinerlei realistische Alternative gab.
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 2-3, § 17 Abs. 3; BGB §§ 134, 613a Abs. 4; InsO § 123
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 21.03.2019; Aktenzeichen 41 Ca 11671/18) |
Tenor
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 21.03.2019 - 41 Ca 11671/18 - abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits hat die klagende Partei zu tragen.
III. Die Revision wird nur bezogen auf die Klageabweisung hinsichtlich des Feststellungsantrags auf Nachteilsausgleich zugelassen. Im Übrigen wird sie nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten - wie in ca. 2.000 weiteren Verfahren allein in Berlin - im Kern über die Wirksamkeit einer Kündigung, die auf eine beabsichtigte Betriebsstilllegung gestützt wird, Ansprüche auf Nachteilsausgleich, auf Auskünfte und den Abschluss eines Fortsetzungsvertrages.
Der Beklagte ist durch Beschluss des Amtsgerichts Charlottenburg, der am 17.01.2018 veröffentlicht wurde, zum Insolvenzverwalter über das Vermögen der A. Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG (im Folgenden: Schuldnerin) mit Sitz in Berlin bestellt worden.
Die Klägerin (künftig: die klagende Partei) war bei der Schuldnerin in der Funktion als Flugbegleiterin beschäftigt. Die Betriebszugehörigkeit rechnete ab dem 01.04.2006. Das durchschnittliche Bruttomonatsentgelt betrug 3.500,00 €. Die klagende Partei war in Nürnberg stationiert. Zur Zeit der Kündigung befand sie sich in Elternzeit.
Bei der Schuldnerin handelte es sich im Jahre 2017 um die zweitgrößte Fluggesellschaft Deutschlands, die von ihren Drehkreuzen in Düsseldorf und Berlin-Tegel hauptsächlich Ziele überwiegend in ganz Europa anflog. Sie beschäftigte nach Angaben des Beklagten mit Stand August 2017 6.121 Beschäftigte, davon 1.318 Piloten, 3.362 Beschäftigte in der Kabine und 1.441 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Boden. Das fliegende Personal der Schuldnerin war in Deutschland an den Flughäfen Berlin-Tegel, Düsseldorf, München, Frankfurt, Nürnberg, Stuttgart, Leipzig, Köln, Hamburg und Paderborn stationiert.
Die Schuldnerin nutze für den Flugbetrieb ausschließlich geleaste Flugzeuge, nach ihren Angaben insgesamt 132 zum Stichtag 12.10.2017. Sie war weiterhin alleinige Eigentümerin des österreichischen Flugbetriebs N. Luftfahrt GmbH mit Sitz in Wien, welche 21 Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge der A 320-Familie betrieb.
Seit dem Jahr 2016 unterhielt die Schuldnerin nicht mehr ausschließlich einen eigenwirtschaftlichen Flugbetrieb, sondern war auch im sog. "Wet-Lease" für die E. GmbH (im Folgenden: E.), einer 100 %-igen Tochter der Deutschen L. AG, sowie die Deutsche L. AG (im Folgenden: L.) tätig. Beim Wet-Lease, bei der Schuldnerin auch als ACMIO bezeichnet, stellt eine Fluggesellschaft einer anderen Fluggesellschaft ein Flugzeug mit Cockpit-Crew, Kabinenpersonal, Wartung und Versicherung bereit. An den Stationen Düsseldorf und München wurden die Mitarbeiter mit Sondergenehmigung des Luftfahrtbundesamtes sowohl für die Schuldnerin als auch für E. eingesetzt. Sie mussten beide Uniformen abwechselnd tragen.
Um eine Flugstrecke am Markt anbieten zu können, benötigt eine Fluggesellschaft so genannte "Slots", d.h. "Zeitnischen" im Sinne der VO (EWG) Nr. 95/93. Hierbei handelt es sich um das Recht, an einem Flughafen, dessen Kapazitäten eine entsprechende Koordinierung erforderlich machen, an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit zu starten oder zu landen. Es handelt sich dabei um öffentlich-rechtliche Nutzungsrechte.
Der gesamte Flugbetrieb wurde in Berlin geplant. Dies betraf den Einsatz von Maschinen und Personal,...