Entscheidungsstichwort (Thema)
Massenentlassungsanzeige
Leitsatz (amtlich)
Vertrauensschutz, keine Unwirksamkeit einer Kündigung aus dem Jahr 2002 wegen Massenentlassungsanzeige nach Kündigungszugang
Normenkette
KSchG § 17
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 1. März 2005 – 36 Ca 19726/02 – teilweise dahin abgeändert, dass die Klage insgesamt abgewiesen wird.
II. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz noch über die Wirksamkeit einer ordentlichen, betriebsbedingten Kündigung, die der beklagte Insolvenzverwalter mit dem Schreiben vom 27. Juni 2002 gegenüber der seit Dezember 1993 bei der Schuldnerin bzw. deren Rechtsvorgängern zu einem Bruttomonatsentgelt von zuletzt 1.436,46 EUR zuzüglich 23,00 EUR (Fahrgeldpauschale) in deren Betrieb für Hauspflegedienstleistungen mit zunächst etwa 430, Mitte Juni 2002 noch 176 und Ende August 2002 noch 172 Arbeitnehmern beschäftigten Klägerin zum 30. September 2002 ausgesprochen hat, nachdem er mit dem Betriebsrat unter dem 23. Mai 2002 einen Interessenausgleich und einen Sozialplan (Bl. 81 f d. A.) geschlossen und den Betriebsrat mit dem Schreiben vom 19. Juni 2002 (Bl. 16 bis 17, 34 bis 39 d. A.) zur beabsichtigten Kündigung der noch bestehenden Arbeitsverhältnisse angehört hatte.
Mit dem Schreiben vom 27. August 2002 (Bl. 40 ff d. A.) zeigte der Beklagte der Bundesanstalt für A. (Arbeitsamt Berlin W.) die Entlassung von 172 Beschäftigten zum 30. September 2002 an und fügte der Anzeige die Stellungnahme des Betriebsrats bei.
Mit der am 17. Juli 2002 bei dem Arbeitsgericht Berlin eingegangenen Klage hat sich die Klägerin u.a. gegen die ihr am 29. Juni 2002 zugegangene Kündigung vom 27. Juni 2002 gewandt, die sie für sozial ungerechtfertigt und sittenwidrig sowie wegen nicht ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats und nicht ordnungsgemäßer Durchführung des Verfahrens bei Massenentlassungen für rechtsunwirksam gehalten hat.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
- festzustellen, dass ihr Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 27. Juni 2002 nicht aufgelöst worden ist;
- den Beklagten zu verurteilen, sie bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits als Pflegehelferin weiterzubeschäftigen.
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Kündigung u.a. wegen der bereits Ende Januar 2002 erfolgten vollständigen Betriebseinstellung unter ordnungsgemäßer Einhaltung sämtlicher Verfahrensvorschriften für rechtswirksam gehalten.
Durch den Beschluss vom 30. April 2003 hat das Arbeitsgericht den Rechtsstreit ausgesetzt und ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft gerichtet. Wegen des Inhalts des Beschlusses vom 30. April 2003 im Einzelnen wird auf Bl. 107 bis 121 d. A. verwiesen.
Mit dem Urteil vom 27. Januar 2005 hat der Gerichtshof (Rechtssache C-188/03) für Recht erkannt:
- „Die Artikel 2 bis 4 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen sind dahin auszulegen, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis ist, das als Entlassung gilt.
- Der Arbeitgeber darf Massenentlassungen nach Ende des Konsultationsverfahrens im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie 98/59 und nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung im Sinne der Artikel 3 und 4 der Richtlinie vornehmen.”
Wegen des Inhalts des Urteils im Einzelnen wird auf Bl. 183 bis 195 d. A. Bezug genommen.
Von der weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes erster Instanz wird unter Bezugnahme auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 205 bis 208 d. A.) abgesehen (§ 69 Abs. 3 ArbGG).
Durch das Urteil vom 01. März 2005 hat das Arbeitsgericht unter Abweisung der weitergehenden Klage festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin nicht durch die Kündigung vom 27. Juni 2002 beendet werde, den Wert des Streitgegenstandes auf 5.849,84 EUR festgesetzt und die Kosten des Rechtsstreits der Klägerin zu 25 Prozent und der Beklagten zu 75 Prozent auferlegt. Zur Begründung des stattgebenden Teils der Entscheidung hat das Arbeitsgericht im Wesentlichen ausgeführt, die Kündigung sei zwar weder sozial ungerechtfertigt noch sittenwidrig noch wegen einer fehlerhaften Anhörung des Betriebsrats unwirksam, der Wirksamkeit der Kündigung stünden jedoch die Regelungen der §§ 134 BGB, 17 f KSchG entgegen. Der Beklagte habe dem Arbeitsamt die Entlassung von 172 Beschäftigten zum 30. September 2002 erst mit dem Schreiben vom 27. August 2002 und damit nach der der Klägerin am 29. Juni 2003 zugegangenen Kündigungserklärung angezeigt, obwohl nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften das Ereignis, das als Entlassung i.S.d. §§ 17 f KSchG gelte, die Kündigungserklärun...