Entscheidungsstichwort (Thema)
Weiterverwendung von schwerbehinderten Arbeitnehmern aus aufgelösten Einrichtungen der ehemaligen DDR
Leitsatz (amtlich)
1. Die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 24. April 1991 – 1 BvR 1341/90 –, wonach u.a. schwerbehinderte Arbeitnehmer aus aufgelösten Einrichtungen der ehemaligen DDR bei der Besetzung von Stellen angemessen zu berücksichtigen sind, haben gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG Bindungswirkung.
2. Der öffentliche Arbeitgeber, in dessen Zuständigkeitsbereich eine aufgelöste Einrichtung der ehemaligen DDR geraten ist, hat in analoger Anwendung von § 315 BGB nach billigem Ermessen über die Auswahl der weiterzuverwendenden Arbeitnehmer zu entscheiden und dabei insbesondere die sozialen Belange schwerbehinderter Arbeitnehmer besonders zu berücksichtigen, solange deren Arbeitsverhältnis (als ruhendes) noch besteht.
3. Die Berücksichtigung solcher sozialer Belange verstößt nicht gegen Art. 33 Abs. 2 GG.
4. Für die Auswahlentscheidung kann der öffentliche Arbeitgeber – ggf. unter Beteiligung des Personalrats – generell Auswahlrichtlinien aufstellen, die von den Gerichten für Arbeitssachen nur noch auf ihre generelle Eignung zur angemessenen Berücksichtigung schwerbehinderter Arbeitnehmer zu überprüfen sind.
5. Steht die generelle Eignung von Auswahlrichtlinien fest und steht die Nichtberücksichtigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers im Einklang mit diesen Richtlinien, dann kann dieser Arbeitnehmer nicht geltend machen, er sei bei der konkreten Stellenbesetzung nicht angemessen berücksichtigt worden.
6. Mangels Vorhandenseins von Auswahlrichtlinien ist im Einzelfall zu überprüfen, ob die Nichtberücksichtigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers bei der Besetzung einer Stelle billigem Ermessen entspricht.
7. War die Nichtberücksichtigung des schwerbehinderten Arbeitnehmers unbillig, dann hat er einen Weiterverwendungsanspruch.
8. Hat der öffentliche Arbeitgeber einen schwerbehinderten Arbeitnehmer, der einen Weiterverwendungsanspruch hat, nicht weiterverwendet, dann kann er sich auf das Ruhen und die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr berufen.
9. Auch in der Zeit vor der Verkündung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 24. April 1991 unterlag die Auswahlentscheidung bereits § 315 BGB.
Normenkette
GG Art. 12 Abs. 1, Art. 33 Abs. 2, Art. 20 Abs. 1; BGB § 315
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Urteil vom 05.12.1991; Aktenzeichen 65 Ca 9271/91) |
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 5.12.1991 – 65 Ca 9271/91 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
II. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob das Arbeitsverhältnis der Klägerin gemäß Art. 20, Anlage I, Kap. XIX, Sachgebiet A, Abschnitt III, Nr. 1, Abs. 2 des Gesetzes zum Einigungsvertrag (im folgenden: Nr. 1 Abs. 2… G-EV) ab 3. Oktober 1990 geruht und mit Wirkung zum 2. April 1991 geendet hat. Diesem Streit liegt der folgende Sachverhalt zugrunde:
Die 1943 geborene und schwerbehinderte Klägerin, die eine Ausbildung als Stenotypistin hat, war seit 1962 beim Ministerium für Verkehr der ehemaligen DDR, zuletzt als Sekretärin in der Abteilung Binnenschiffahrt und Wasserstraßen, … (Binnenschiffahrt- und Wasserstraßenrecht; Internationale Angelegenheiten) gegen ein monatliches Gehalt von zuletzt 1.400,– DM brutto beschäftigt.
Mit einem Schreiben vom 24. September 1990, auf dessen Inhalt im einzelnen Bezug genommen wird, teilte die Beklagte der Klägerin mit, daß das mit dem 3. Oktober 1990 zur Bundesrepublik Deutschland weiterbestehende Arbeitsverhältnis bis auf weiteres ruhe und der Klägerin anstelle der Vergütung ein Wartegeld in Höhe von 70 % des durchschnittlich erzielten Arbeitsentgelts der letzten 6 Monate gezahlt werde. Weiter heißt es in dem Schreiben unter anderem:
„Während der Dauer der Ruhenszeit bleibe ich bemüht, Ihnen im Rahmen des Bedarfs eine geeignete Verwendungsmöglichkeit im Bundesministerium für Verkehr bzw. dessen Geschäftsbereich anzubieten bzw. in Zusammenarbeit mit der Arbeitsverwaltung Ihnen eine angemessene Tätigkeit zu vermitteln oder Ihre weitere Verwendung durch Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahmen zu fördern.”
Am 25. September 1990 erließ der Bundesminister für Verkehr eine Organisationsverfügung, in der es unter anderem heißt:
„Mit Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 erweitert sich die Zuständigkeit des Bundesministers für Verkehr auf den beigetretenen Teil …
In der Abteilung Binnenschiffahrt und Wasserstraßen wird ein Referat … eingerichtet, dem die Gebietsaufgaben Ost obliegen …
Mit Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland wird das Ministerium für Verkehr der DDR aufgelöst.
Zur Abwicklung und zur Wahrnehmung von Fachaufgaben wird für eine Übergangszeit in Berlin eine Außenstelle des Bundesverkehrsministeriums eingerichtet, …”
Mit dem 3. Oktober 1990 wurde für 218 der ehemals 7...