Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewöhnlicher Arbeitsort bei Ausübung einer Tätigkeit in mehreren Staaten. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit bei "sic-non-Fällen". Pilot als Arbeitnehmer. Geltung des AÜG bei gewerbsmäßiger Arbeitnehmerüberlassung durch einen ausländischen Verleiher

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Gibt es keinen Ort, an dem gewöhnlich gearbeitet wird, ist das Recht des Ortes maßgeblich, von dem aus gearbeitet wird. Daher ist bei fliegendem Personal die von der Fluggesellschaft festgelegte Heimatbasis des Flugzeugs ein Indiz für den gewöhnlichen Arbeitsort. Im Regelfall ist deshalb der Abflugort als gewöhnlicher Arbeitsort i.S.v. Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO anzusehen.

2. Der Streitgegenstand wird vom Kläger durch den Klageantrag in Verbindung mit der Klagebegründung bestimmt. In den Fällen, in denen der Anspruch lediglich auf eine arbeitsrechtliche Grundlage gestützt wird, obwohl fraglich ist, ob deren Voraussetzungen überhaupt vorliegen, handelt es sich um "sic-non-Fälle", die am häufigsten bei Statusklagen, d.h. bei Klagen auf Feststellung der Arbeitnehmereigenschaft vorkommen. Hier reicht die bloße Rechtsbehauptung der klagenden Partei, sie sei Arbeitnehmer, zur Begründung der Rechtswegzuständigkeit zum Arbeitsgericht aus.

3. Auch wenn ein Pilot Gesellschafter einer ausländischen Pilotengesellschaft ist, kann er in einem Arbeitsverhältnis tätig sein, wenn er in persönlicher Abhängigkeit aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit verpflichtet ist. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit betreffen. Zur Entscheidung, ob ein Arbeitsverhältnis vorliegt, kommt es auf die Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls an.

4. Wenn ein ausländischer Verleiher Arbeitskräfte in Deutschland, nach Deutschland hinein oder aus Deutschland hinaus überlassen will, gilt bei Anwendung des deutschen Arbeitsrechts auch das AÜG. Hat der ausländische Verleiher keine Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis nach § 1 Abs. 1 AÜG, gilt gem. § 9 Abs. 1 AÜG ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer als zustande gekommen.

 

Normenkette

Rom I-VO Art. 3 Abs. 1, Art. 8 Abs. 2; AEUV Art. 56-57; BGB §§ 611a, 623; GewO § 106; AÜG § 1 Abs. 1, § 9 Abs. 1, § 10 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Bremen-Bremerhaven (Entscheidung vom 13.01.2020; Aktenzeichen 1 Ca 1267/16)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 26.04.2022; Aktenzeichen 9 AZR 139/21)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bremen-Bremerhaven vom 13. Januar 2020 - 1 Ca 1267/16 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Frage, ob die Klägerin bei der allein verbliebenen Beklagten, der ehemaligen Beklagten zu 2), als Arbeitnehmerin tätig war oder ob sie als Selbstständige anzusehen ist, ein etwaiges Arbeitsverhältnis rechtswirksam beendet wurde, eine Versetzung wirksam ist sowie darüber, ob ein Anspruch auf Erteilung eines Zwischenzeugnisses besteht.

Die Klägerin, die geboren und verheiratet ist sowie zwei Kindern gegenüber unterhaltsverpflichtet, ist Pilotin. Sie ist Gesellschafterin einer Firma W. Ltd. mit Sitz in Dublin/Irland. Neben der Klägerin sind zumindest noch zwei weitere Personen ebenfalls Gesellschafter der vorgenannten Firma.

Am 14.12.2012 schlossen die ehemalige Beklagte zu 1), die B. Ltd., mit Sitz in Großbritannien und die W. Ltd. einen Vertrag, durch den Pilotendienstleistungen zur Verfügung gestellt wurden. Darin wurde eine Gerichtsstandsvereinbarung mit englischem Recht getroffen. Weder die W. Ltd. noch die B. Ltd. besitzen eigene Flugzeuge.

Die B. Ltd. hat ihrerseits jedenfalls mit der Beklagten, der R. D. oder deren Rechtsvorgängerin, vertragliche Beziehungen über Pilotendienstleistungen gehabt und bediente sich dazu u.a. der W. Ltd. Die ehemalige Beklagte zu 3), die R. P., ist eine Holdinggesellschaft, deren Tochtergesellschaft die R. D. ist. Beide haben ihren Sitz in Dublin/Irland.

Die R. D. führt internationale Flüge unter einer irischen Fluglizenz durch. Im Flugbetrieb werden dabei nicht ausschließlich bei der R. D. angestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingesetzt. Ein Teil der anfallenden Arbeiten wird über Anbieter von externen Dienstleistungen abgedeckt, wie z. B. von der B. Ltd.

Von Januar 2013 bis Juni 2014 führte die Klägerin keinerlei Flüge für die R. D., die Ltd. oder die R. P. . durch. Danach war sie wieder als Pilotin tätig. Ihre Bezüge erhielt die Klägerin von der W. Ltd bzw. der B. Ltd. (Anlage K 26) auf ihr eigenes Konto. Bei witterungsbedingtem Flugausfall, Streik oder bei Erkrankung erhielt die Klägerin keine Vergütung. Die R. D., die Beklagte, entrichtete ihrerseits an die B. Ltd., die ehemalige Beklagte zu 1), die vereinbarte Vergütung für Flugstunden sowie für den Verwaltungsaufwand.

Über ihre Einsatzzeiten und Flugstrecken wurde die Klägerin von der R. D., der Ltd. oder der R. P. . ca...

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