Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen sexueller Belästigung
Leitsatz (redaktionell)
1. Ob eine sexuelle Belästigung im Einzelfall zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses berechtigt, ist abhängig von den konkreten Umständen, u.a. von ihrem Umfang und ihrer Intensität zu beurteilen. Auch im Bereich sexueller Belästigung ist regelmäßig eine Abmahnung vor Ausspruch einer ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit erforderlich, es sei denn, bereits ex ante ist erkennbar, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich ausgeschlossen ist.
2. Hat der Arbeitnehmer zum Tatzeitpunkt bereits 23 Jahre beanstandungsfrei für den Arbeitgeber gearbeitet und sich keine schwerwiegenden Verfehlungen zu Schulden kommen lassen, ist er insbesondere gegenüber anderen Mitarbeitern nicht in irgendeiner Weise sexuell belästigend aufgefallen, so darf eine auf den Vorwurf der sexuellen Belästigung gestützte außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses nicht erfolgen, ohne dass der Arbeitnehmer vorher abgemahnt worden ist. Das gilt insbesondere dann, wenn sich sein Verhalten zwar rein objektiv als sexuelle Belästigung darstellt, aber nicht sexuell motiviert war, sondern es sich um ein situatives, unreflektiertes Verhalten gehandelt hat.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2 S. 3; ZPO § 286; AGG § 3 Abs. 4
Verfahrensgang
ArbG Bremen-Bremerhaven (Entscheidung vom 23.04.2015; Aktenzeichen 5 Ca 5261/14) |
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bremen-Bremerhaven vom 23.04.2015 - 5 Ca 5261/14 - abgeändert und festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis weder durch Kündigung vom 07.11.2014 außerordentlich fristlos noch durch Kündigung vom 12.11.2014 hilfsweise ordentlich beendet worden ist.
2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger zu unveränderten Arbeitsbedingungen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als Arbeiter weiter zu beschäftigen.
3. Die Revision wird gegen dieses Urteil nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen sowie einer hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung und Weiterbeschäftigung.
Die Beklagte betreibt ein Stahlwerk in B.. Sie beschäftigt ständig mehr als 10 Mitarbeiter. Bei der Beklagten besteht ein Betriebsrat. Der Kläger ist seit dem 04.06.1991 bei der Beklagten als Arbeiter beschäftigt. Er wurde am ...1970 geboren, ist verheiratet und drei Kindern zum Unterhalt verpflichtet. Auf den Monat bezogen erhält der Kläger eine durchschnittliche Vergütung von € 3.978,78. In dem Betrieb der Beklagten existiert eine Betriebsvereinbarung vom 01.02.2005 mit dem Titel "Respektvolle Zusammenarbeit" (Bl. 39 f. d.A.). In der Präambel wird die Bedeutung einer respektvollen Zusammenarbeit der Mitarbeiter untereinander beschrieben. Weiter werden verschiedene Arten der Diskriminierung, u.a. sexuelle Belästigung, näher beschrieben. Unter Ziffer 5 der Betriebsvereinbarung heißt es:
"Maßnahmen bei Verstößen gegen die Grundsätze der BV
Arbeitgeber und Betriebsrat beraten gemeinsam über zu treffende Maßnahmen. Auf Grundlage des Beratungsergebnisses ergreift der Arbeitgeber angemessene Maßnahmen, wie z.B.:
- Belehrung
- Verwarnung
- Abmahnung
- Umsetzung
- Versetzung
- Kündigung.
Im Übrigen gelten die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen."
Mit Schreiben vom 07.11.2014, dem Kläger am 10.11.2014 zugegangen, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger fristlos (Bl. 5 d.A.). Mit Schreiben vom 12.11.2014, dem Kläger am gleichen Tag zugegangen, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger vorsorglich und ohne Präjudiz für die Wirksamkeit der Kündigung vom 07.11.2014 ordentlich zum 30.06.2015 (Bl. 10 d.A.). Den Kündigungen liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Am 22.10.2014 war der Kläger zusammen mit zwei Fremdfirmenmitarbeitern, den Zeugen O. T. und M. B., in der Frühschicht bei der Beklagten im Bereich D 3 tätig. Der Kläger war als Beschrifter dafür zuständig, die Coils zu etikettieren. Hierfür druckte er zunächst die Etiketten aus, um sie sodann an die Coils zu kleben. Die Zeugen T. und B. waren dafür zuständig, die Coils zu verpacken und diese abzubinden. Die zu verpackenden Coils stehen rechtwinkelig nummeriert von 1) bis 4) zueinander. Es wird Bezug genommen auf das zur Akte gereichte Foto (Anlage A10, Bl. 45 d.A.). Das Foto gibt nicht die konkrete Situation vom 22.10.2014 wieder, zeigt aber, wie die Coils üblicherweise nebeneinander stehen. Auch am 22.10.2014 standen die Coils entsprechend nebeneinander, wobei der genaue Abstand zwischen den Coils unter den Parteien streitig ist. Die Bek...