Leitsatz (amtlich)

1. Eine Beweisaufnahme durch Vernehmung des Arztes, der ein Beschäftigungsverbot nach § Abs. 1 MuSchG ausgesprochen hat, zum Zwecke der Klärung, ob der Arbeitgeber Mutterschutzlohn nach § 11 Abs. 1 Satz 1 MuSchG oder Entgeldfortzahlung zu leisten, bzw. ob die Krankenkasse Krankengeld zu zahlen hat, birgt die Gefahr in sich, gegen Art. 1 GG zu verstoßen, da zur Klärung des Leistungsverpflichteten überprüft werden muß, ob der behandelnde Arzt den ihm vom BAG eingeräumten Beurteilungsspielraum überschritten hat. Dies macht es gegebenenfalls notwendig, den Arzt zu veranlassen, seine Befunde über körperliche und psychische Beschwerden der Schwangeren mitzuteilen, und damit den intimsten Bereich der werdenden Mutter offenzulegen. Eine Erörterung derartiger Befunde zur Ermittlung des zur Leistung Verpflichteten kann die Schwangere zum Objekt herabwürdigen und ihre beruflichen Chancen im Arbeitsverhältnis mindern.

2. Die Auffassung des BAG, Mutterschutzlohn sei dem Willen des Gesetzgebers nach nur dann zu zahlen, wenn das Beschäftigungsverbot die alleinige Ursache für das Aussetzen der Schwangeren mit der Arbeit sei, beruht auf der Annahme, der Gesetzgeber habe im Gesetzgebungsverfahren zum Ausdruck gebracht, Lohn- bzw. Gehaltsfortzahlung sei im Falle der Arbeitsunfähigkeit der Schwangeren vorrangig. Der zuständige Ausschuß des Bundestages hat allerdings nur erklärt, daß Lohn- bzw. Gehaltsfortzahlung im Falle der Krankheit „i. S. der RVO” vorrangig sei. Leistungen im Falle einer Krankheit i. S. der RVO sind nach damaliger herrschender sozialrechtlicher Meinung nachrangig gegenüber Leistungen der Sozialversicherung bei Schwangerschaft und Mutterschaft entsprechend §§ 196 RVO. Demnach spricht alles dafür, daß der Gesetzgeber die Leistungsverpflichtung von Arbeitgeber und Krankenkasse ebenso abgrenzen wollte wie den Versicherungsfall Krankheit vom Versicherungsfall Schwangerschaft, Danach wäre Mutterschutzlohn nur dann nachrangig gegenüber den Vorschriften über die Entgeltfortzahlung, wenn eine nicht auf die Schwangerschaft zurückzuführende Arbeitsunfähigkeit vorliegt.

 

Verfahrensgang

ArbG Bremen (Urteil vom 06.12.1994; Aktenzeichen 4a Ca 4131/94)

ArbG Bremen (Urteil vom 21.01.1993; Aktenzeichen 1 Ca 1313/92)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin hin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bremen vom 21.01.1993 – 1 Ca 1313/92 – abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin DM 6.200,– brutto nebst 14,5% Zinsen auf den Nettobetrag seit dem 01.10.1992 zu zahlen.

2. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bremen vom 06.12.1994 – 4a Ca 4131/94 – wird als unbegründet zurückgewiesen.

3. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits 2 Sa 341/95 einschließlich der Kosten der Revision

sowie die Kosten der Berufung des Rechtsstreits 4 Sa 71/95.

 

Tatbestand

Die Klägerin verlangt von der Beklagten Mutterschutzlohn aufgrund eines ärztlichen Beschäftigungsverbots (§ 11 Abs. 1, § 3 Abs. 1 MuSchG).

Die Klägerin wurde von der Beklagten ab 15. Mai 1992 als Assistentin der Geschäftsleitung angestellt. Sie erhielt ein monatliches Bruttogehalt von 6.200,– DM. Am 18. oder 19. Mai 1992 teilte sie der Beklagten mit, sie sei schwanger. Für die Zeit ab 22. Mai 1992 legte die Klägerin mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ihrer sie damals behandelnden Ärztin vor. Als Diagnose wurde „Hyperemesis gravidarum” angegeben. Die letzte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 27. Juni bis zum 11. Juli 1992 enthielt zusätzlich die Angabe „Grippaler Infekt in graviditate”.

Die Klägerin bezog von der Beklagten Gehaltsfortzahlung wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit für die Zeit vom 22. Mai bis zum 3. Juli 1992. Für die Zeit vom 4. bis zum 12. Juli 1992 erhielt sie Krankengeld.

Die Klägerin suchte auf Anraten ihrer Ärztin einen Gynäkologen auf. Dieser stellte ihr am 13. Juli 1992 folgende Bescheinigung aus:

„Frau … wird aufgrund des bisherigen Schwangerschaftsverlaufs und der heutigen Untersuchungen ein Beschäftigungsverbot erteilt, weil durch die Fortführung der Beschäftigung die Gesundheit von Mutter und Kind gefährdet sind.

Diagnose:

unstillbares Erbrechen,

drohende Fehlgeburt bei rezidivierenden Blutungen.”

Daraufhin zahlte die Beklagte der Klägerin das Gehalt bis Ende August 1992 weiter. Für die Folgezeit lehnte sie die Zahlung ab. Die Klägerin verlangt von der Beklagten das Gehalt für den Monat September 1992.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 6.200,00 DM brutto nebst 14,5% Zinsen auf den Nettobetrag seit dem 1. Oktober 1992 zu zahlen.

Die Beklagte hat die Zahlung abgelehnt, weil die Klägerin arbeitsunfähig krank gewesen sei. Der Zeitraum der Lohnfortzahlung wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit sei erschöpft. Eine Pflicht zur weiteren Gehaltsfortzahlung wegen des ärztlichen Beschäftigungsverbotes in der Schwangerschaft komme nicht in Betracht. Die zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankung der Klägerin folge aus der Diagnose des Gynäkologen in der Besche...

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