Entscheidungsstichwort (Thema)
Sperrwirkung einer normativ gültigen Betriebsvereinbarung für Spruch der Einigungsstelle. Keine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle wegen streitiger Rechtslage
Leitsatz (amtlich)
1. Zum Begriff der offensichtlichen Unzuständigkeit bei § 100 Abs. 1 Satz 2 ArbGG.
2. Solange zum selben Regelungsthema eine abschließende Regelung durch eine ungekündigte und damit normativ wirkende Betriebsvereinbarung bereits besteht, kann diese durch Spruch einer Einigungsstelle nicht abgelöst werden. Spruchfähig ist das Regelungsthema vielmehr erst nach Beendigung der Laufzeit und damit der normativen Wirkung der bestehenden Kollektivvereinbarung.
3. Da diese Rechtsfrage allerdings in Rechtsprechung und Literatur nicht unumstritten ist und eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hierzu nicht besteht, zudem die Gegenansicht zwar nicht zu überzeugen vermag, aber auch nicht rechtlich unhaltbar ist, scheidet die Annahme, eine Einigungsstelle sei in einem solchen Fall offensichtlich unzuständig, aus. Sie ist dann vielmehr gerichtlich einzusetzen und hat sodann selbst über ihre Zuständigkeit zu entscheiden.
Normenkette
ArbGG § 100; BGB § 313
Verfahrensgang
ArbG Krefeld (Entscheidung vom 21.05.2021; Aktenzeichen 2 BV 7/21) |
Tenor
Die Beschwerde des Beteiligten zu 2.) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Krefeld vom 21.05.2021 - Az.: 2 BV 7/21 - wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Beschwerdeverfahren über die Einsetzung einer Einigungsstelle zum Thema der Neuregelung des Entgeltsystems unter Einsatz eines Regelarbeitszeitmodells.
Die Antragstellerin betreibt ein Unternehmen, welches die Zustellung von Tageszeitungen an Abonnenten zum Gegenstand hat und beschäftigt insgesamt 255 Zusteller. Der Beteiligte zu 2.) ist der im Betrieb der Antragstellerin gewählte und konstituierte Betriebsrat.
Im Rahmen der Einführung des Mindestlohns haben die Betriebsparteien unter dem 20.02.2015 eine Betriebsvereinbarung über ein Entlohnungssystem unter Einsatz eines Regelarbeitszeitmodells abgeschlossen. Das Regelarbeitszeitmodell sieht vor, dass für die einzelnen Zustellbezirke auf Grundlage verschiedener Daten, wie beispielsweise der Anzahl der Abonnenten im Bezirk, der Lage der Abonnentenadressen sowie der Verkehrsführung im Bezirk eine sogenannte "Regelarbeitszeit" ermittelt wird. Durch diese Regelarbeitszeit wird die Arbeitszeit eines durchschnittlichen Zustellers in dem jeweiligen Bezirk abgebildet. Zusätzlich zur Regelarbeitszeit sieht das Entlohnungssystem auch eine sogenannte "Ist-Arbeitszeit" vor. Hierbei handelt es sich um die tatsächlich von dem jeweiligen Zusteller im Bezirk geleistete Arbeitszeit. Zusteller, für die die abstrakt ermittelte Regelarbeitszeit nicht ausreicht, melden die für sie erforderlichen Mehrarbeitszeit, die dann als Ist-Arbeitszeit im System hinterlegt wird. Die Vergütung der Zusteller erfolgt auf Grundlage der Ist-Arbeitszeit, mindestens jedoch der Regelarbeitszeit.
Im November 2020 nahm die Antragstellerin Verhandlungen mit dem Betriebsrat über die Neuregelung des Regelarbeitszeitmodells, insbesondere unter Verwendung der aktuellen Abonnentenzahlen auf. Im Laufe der Verhandlungen fanden zwischen dem 21.01.2021 und dem 19.03.2021 in insgesamt 15 Zustellbezirken Begehungen statt. Nachdem ein nachfolgender Verhandlungstermin am 12.04.2021 zu keinem Ergebnis führte, der Folgetermin am 15.04.2021 sowie weitere, von der Antragstellerin vorgeschlagene Termine durch den Betriebsrat abgesagt und dabei auch von ihm keine Alternativtermine trotz entsprechender Aufforderung durch die Antragstellerin vorgeschlagen wurden, erklärte die Antragstellerin die Verhandlungen mit Schreiben vom 27.04.2021 für gescheitert.
Die Betriebsvereinbarung vom 20.02.2015 kündigte die Antragstellerin mit Schreiben vom Juni 2021 gemäß § 5 der Betriebsvereinbarung mit der dort niedergelegten Frist von drei Monaten zum 30.09.2021; diese Kündigung ist dem Betriebsrat auch zugegangen.
Mit ihrem am 28.04.2021 bei dem Arbeitsgericht Krefeld eingereichten und dem Beteiligten zu 2.) am 03.05.2021 über seine Verfahrensbevollmächtigten zugestellten Antragsschriftsatz hat die Antragstellerin die Bestellung des Direktors des Arbeitsgerichts Bonn, Herrn Löhr-Steinhaus zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle, die über die Neuregelung des Entlohnungssystems unter Einsatz eines Regelarbeitszeitmodells entscheiden soll sowie die Festsetzung der Beisitzer auf drei pro Seite beantragt. Sie hat die Ansicht vertreten, die Einigungsstelle sei zuständig. Es gehe nicht um die bloße Reduzierung der Arbeitszeit der einzelnen Zeitungszusteller, sondern um eine Neuregelung des bei der Antragstellerin praktizierten Entlohnungssystems auf Basis eines Regelarbeitszeitmodells. Es gehe darüber hinaus um die Frage, auf welcher Datenbasis die Regelarbeitszeit errechnet werden solle. Infolge der deutlich rückläufigen Abonnentenzahlen liege die tatsächliche Arbeitszeit der Zusteller inzwischen...