Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Kollektives Zusammenwirken mehrerer Arbeitnehmer als Indiz zur Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Teilweise Unzulässigkeit der Berufung. Kostenentscheidung bei teilweiser Berufungsrücknahme

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der hohe Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wird auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 08.09.2021 (5 AZR 149/21) nicht allein bereits dadurch erschüttert, dass teilweise zeitgleich mit der klagenden Arbeitnehmerin noch zwei weitere Beschäftigte "krankgeschrieben" werden und in einem Zeitraum von vier Monaten insgesamt fünf Beschäftigte - sich teilweise zeitlich überschneidende - krankheitsbedingte Ausfallzeiten aufweisen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass angesichts einer Gesamtbeschäftigtenzahl von nur neun Arbeitnehmern damit bis zu 1/3 der Belegschaft zeitgleich krankheitsbedingt ausfällt.

2. Eine Erschütterung des Beweiswertes einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt in Betracht, wenn hinreichende Indizien für ein kollusives Zusammenwirken mehrerer Arbeitnehmer zur zeitgleichen "Krankschreibung" mit dem Ziel der Schädigung des Arbeitgebers vorliegen. Das bloße zeitliche Zusammentreffen mehrerer Krankheitsausfälle als solches begründet jedoch kein solches Indiz, sondern ist für sich genommen neutral. Hinzutreten müssen weitere Umstände, wie beispielsweise bestimmte Äußerungen oder Verhaltensweisen der betreffenden Arbeitnehmer, die auf ein kollusives Zusammenwirken schließen lassen.

3. Wird eine Berufung nicht ausdrücklich auf einen bestimmten Streitteil beschränkt, zudem ein unbeschränkter Berufungsantrag angekündigt, die Berufung aber nur für einen Teil der Streitgegenstände des erstinstanzlichen Urteils begründet, ist im Zweifel von einer umfassenden Berufung auszugehen, die mangels umfassender Berufungsbegründung allerdings teilweise unzulässig ist.

4. § 516 Abs. 3 Satz 2 ZPO findet bei teilweiser Berufungsrücknahme keine Anwendung. Die Kostenfolge ist vielmehr im Urteil, mit dem der aufrechterhaltene Streitteil entschieden wird, als Teil der dortigen, das gesamte Berufungsverfahren umfassenden Kostenentscheidung auszusprechen.

 

Normenkette

EFZG § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 S. 2, § 7 Abs. 1 Nr. 1; ZPO §§ 286, 516, 520 Abs. 3, § 138 Abs. 2-3; SGB V § 275 Abs. 1a S. 3

 

Verfahrensgang

ArbG Mönchengladbach (Entscheidung vom 22.06.2022; Aktenzeichen 4 Ca 952/22)

 

Tenor

  • I.

    Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mönchengladbach vom 22.06.2022 - Az.: 4 Ca 952/22 - wird zurückgewiesen.

  • II.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

  • III.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im Berufungsverfahren zuletzt noch über den Entgeltanspruch der Klägerin für die Zeit vom 01.-04.04.2022 sowie über ihren Entgeltfortzahlungsanspruch für die Zeit vom 05.04.-16.05.2022 in einer Gesamthöhe von 4.548,32 € brutto nebst Zinsen.

Die Klägerin war bei der Beklagten, die eine Zahnarztpraxis betreibt, seit dem 01.06.2021 als Zahnarzthelferin gegen eine Bruttomonatsvergu¨tung in Höhe von 3.000,00 € beschäftigt.

Im April 2022 erbrachte die Klägerin ihre Arbeitsleistung bis einschließlich 04.04.2022. Danach erfolgte bis Ende Mai 2022 keine Arbeitsleistung der Klägerin mehr. Sie war vielmehr ab 05.04.2022 fortlaufend bis 31.05.2022 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Wegen des Inhalts der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 05. (Erstbescheinigung), 11., 29.04. sowie 16.05.2022 (Folgebescheinigungen) des Facharztes für Allgemeinmedizin F. I. aus O. wird auf Blatt 64 ff. der Akte Bezug genommen. Jedenfalls bis zum Ablauf des gesetzlichen Entgeltfortzahlungszeitraums sind diese der Beklagten von der Klägerin auch jeweils übermittelt worden; ab dem 17.05.2022 erhielt die Klägerin Krankengeld.

Mit Schreiben vom 03.05.2022, der Klägerin zugegangen am 05.05.2022, ku¨ndigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 03.06.2022, hilfsweise zum nächstmöglichen Zeitpunkt, und stellte die Klägerin zugleich von der Arbeit frei. Zwischenzeitlich ist rechtskräftig durch das Arbeitsgericht Mönchengladbach entschieden, dass die Kündigung das Arbeitsverhältnis nicht zum 03., sondern zum 15.06.2022 beendet hat.

Zum Zeitpunkt der Kündigung beschäftigte die Beklagte noch neun Arbeitnehmer, zuletzt im Juni 2022 dann nur noch zwei. Von den neun Beschäftigten waren außer der Klägerin noch folgende Personen im Frühjahr 2022 wie folgt arbeitsunfähig erkrankt: eine Person im gesamten Monat Februar 2022, eine weitere im gesamten Monat März 2022, eine weitere im gesamten Monat März und April 2022 und wiederum eine weitere im gesamten Monat April 2022.

Da die Beklagte für April und Mai 2022 keinerlei Entgelt- bzw. Entgeltfortzahlung leistete, hat die Klägerin unter anderem - soweit für die Berufung von Interesse - diese Zahlungsansprüche in Höhe von 3.000,- € brutto für April mit Klageschrift ...

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