Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage eines gefälschten Impfnachweises kein absoluter Kündigungsgrund. Entbehrlichkeit der Abmahnung bei Kündigung wegen vorgetäuschtem Impfnachweis. Interessenabwägung im Rahmen der Kündigung auch bei bewusster Täuschung des Arbeitgebers durch Vorlage eines gefälschten Impfnachweises. Ausspruch der Kündigung vor Ablauf der Wochenfrist nach § 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG
Leitsatz (amtlich)
1. Die vorsätzliche Vorlage eines gefälschten Impfnachweises zum Nachweis der erfolgten COVID-19-Grundimmunisierung nach § 28b Abs. 1 Satz 1 IFSG in der vom 24.11.2021 bis zum 19.03.2022 geltenden Fassung (sog. 3G-Nachweis) begründet einen an sich zur außerordentlichen, fristlosen Kündigung geeigneten wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB.
2. Wurde der gefälschte Impfnachweis gezielt zur Vorlage beim Arbeitgeber und damit zu dessen Täuschung beschafft, ist wegen der besonderen Schwere der Pflichtverletzung vor Ausspruch der Kündigung keine Abmahnung erforderlich.
3. Allerdings kennt das Kündigungsschutzrecht auch in solchen Fällen keine absoluten Kündigungsgründe. Erforderlich ist vielmehr stets eine umfassende Interessenabwägung. Diese führt jedenfalls dann zur Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung, wenn der Arbeitnehmer die Tat im Rahmen seiner Anhörung durch den Arbeitgeber zugibt, seit fast zwei Jahrzehnten ohne verhaltensbedingte Vorfälle im Betrieb beschäftigt ist, eine Gefährdung anderer Mitarbeiter nicht drohte, da der Arbeitnehmer ohnehin langzeiterkrankt war und der Arbeitgeber ebenfalls gegen seine Pflichten nach § 28b IFSG verstoßen hat, indem er den Mitarbeiter in bereits positiver Kenntnis der Impfpassfälschung zwecks Anhörung unter einem falschen Vorwand in den Betrieb beordert hatte, ohne von ihm einen negativen Corona-Testnachweis (als ungeimpfte und auch nicht genesene Person) als Zutrittsberechtigung einzufordern. In einem solchen Einzelfall erweist sich die fristlose Kündigung als unverhältnismäßig.
4. Zur Unwirksamkeit auch der ordentlichen Kündigung, wenn diese vor Ablauf der Wochenfrist nach § 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG ausgesprochen wird, obwohl bis dahin nur eine Stellungnahme des Betriebsrates zur außerordentlichen Kündigung vorliegt, die nicht erkennbar zugleich auch abschließend bereits zur ordentlichen Kündigung erfolgt ist.
Normenkette
IfSG § 28b; BGB § 626; KSchG § 1; BetrVG § 102; KSchG § 1 Abs. 2; ZPO § 97 Abs. 1, § 138 Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Duisburg (Entscheidung vom 08.04.2022; Aktenzeichen 5 Ca 1575/21) |
Tenor
I.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Duisburg vom 08.04.2022 - Az.: 5 Ca 1575/21 - wird zurückgewiesen.
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses durch Ausspruch einer arbeitgeberseitigen außerordentlichen, fristlosen sowie hilfsweise ordentlichen Kündigung vom 10.12.2021 sowie über den Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers.
Der verheiratete und kinderlose Kläger, geboren am 26.10.1983, ist bei der Beklagten, die ca. 300 Arbeitnehmer beschäftigt und bei der ein Betriebsrat besteht, seit dem 01.09.2002 beschäftigt, zuletzt als Kranschlosser in der Kranwerkstatt gegen ein durchschnittliches Bruttomonatsentgelt in Höhe von 3.750,00 €.
Durch das Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze anlässlich der Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22.11.2021 (BGBl. I, Seite 4906 ff.) wurde mit Wirkung ab 24.11.2021 die Regelung des § 28b IfSG dahingehend geändert, dass Beschäftigte Arbeitsstätten, in denen - wie es auch beim Betrieb der Beklagten der Fall war und ist - physische Kontakte zu anderen Beschäftigten oder zu Dritten nicht ausgeschlossen werden können, nur betreten durften, wenn sie gegen COVID-19 geimpft, von einer Infektion genesen oder im Sinne des Gesetzes getestet waren und einen Impfnachweis, einen Genesenennachweis oder einen aktuellen Testnachweis mit sich führten, zur Kontrolle verfügbar hielten oder beim Arbeitgeber hinterlegt hatten (sog. 3G-Regel, § 28b Abs. 1 Satz 1 IfSG a.F.). Die Arbeitgeber wurden gesetzlich verpflichtet, die Einhaltung der vorgenannten Verpflichtungen durch Nachweiskontrollen täglich zu überwachen und regelmäßig zu dokumentieren (§ 28b Abs. 3 Satz 1 IfSG a.F.). Diese gesetzlichen Vorgaben galten bis einschließlich 19.03.2022. Zum 20.03.2022 trat eine gesetzliche Neuregelung des § 28b IfSG in Kraft, die keine 3G-Regelung mehr vorsah.
Die Beklagte forderte ihre Mitarbeiter seit dem 24.11.2021 dazu auf, einen vollständigen Impfausweis/Genesenennachweis oder einen Nachweis einer negativen Testung betreffend das Coronavirus vor Dienstantritt in der Personalabteilung vorzulegen. Dies erfolgte zur Gewährleistung der Einhaltung der 3G-Regel nach § 28b Abs. 1 IfSG in der damals geltenden Fassung. In dem entsprechenden Aufforderungsschreiben der Beklagten vom 24.11.2021 fanden sich keine Info...