Entscheidungsstichwort (Thema)
Werkstattverhältnis contra Arbeitsverhältnis. Werkstattfähigkeit und Gefährdung von Menschen. Zur Anwendung des § 85 SGB IX auf ein Werkstattverhältnis
Leitsatz (amtlich)
1) Zwischen den Parteien besteht ein Werkstattvertrag, wenn der behinderte Mensch in der Werkstatt produktive Arbeiten erbringt. Dem steht nicht entgegen, dass der behinderte Mensch auch betreut und gepflegt wird, solange diese nicht das Maß der Betreuung in einem Förderbereich nach § 136 Abs. 3 SGB IX erreicht.
2) Auf das Werkstattverhältnis findet § 85 SGB IX keine Anwendung. Denn § 85 SB IX setzt eine Tätigkeit in einem Arbeitsverhältnis voraus. Arbeitnehmerähnliche Personen werden nicht erfasst.
3) Die Kündigung des Werkstattvertrages ist gerechtfertigt, wenn die sog. Werkstattfähigkeit nicht mehr vorhanden ist. Diese erfordert, dass der behinderte Mensch wenigstens ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen kann. Sie fehlt jedenfalls dann, wenn trotz einer angemessenen Betreuung eine erhebliche Fremd- oder Selbstgefährdung zu erwarten ist. Dies wiederum erfordert die konkrete oder zumindest begründbar erwartete Gefährdung von Menschen.
Normenkette
SGB IX § 136 Abs. 1, § 138 Abs. 1, § 85; SchwbG §§ 54 ff.
Verfahrensgang
ArbG Oberhausen (Entscheidung vom 28.03.2013; Aktenzeichen 2 Ca 2193/12) |
Nachgehend
Tenor
1.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Oberhausen vom 28.03.2013, Az. 2 Ca 2193/12 abgeändert und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Erklärung der Beklagten vom 28.11.2012, zugegangen am 30.11.2012, nicht fristlos mit ihrem Zugang aufgelöst worden ist, sondern bis zum 05.12.2012 (Zustimmung des Fachausschusses) fortbestanden hat.
2.
Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
3.
Die Kosten des Rechtsstreits tagen der Kläger zu 3/4, die Beklagte zu 1/4.
4.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Beendigung des zwischen den Parteien bestehenden Vertragsverhältnisses.
Die Beklagte, die ständig mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigt, betreibt in N. insgesamt fünf Werkstätten für behinderte Menschen und ist gem. § 138 SGB IX als Einrichtung zur Eingliederung behinderter Erwachsener in das Arbeitsleben anerkannt. In ihren Werkstätten produziert sie unter Mitwirkung der behinderten Menschen einfache Güter, z.B. Kerzen und erbringt einfache Dienstleistungen, z.B. Verpackungsarbeiten.
Der am 13.01.1985 geborene Kläger war zunächst seit dem 01.11.2005 in der Werkstatt für Behinderte in T. beschäftigt. Die Einzelheiten der Beschäftigung regelt der schriftliche Werkstattvertrag vom 31.10.2005, Bl. 27 - 30 GA. Dieser Werkstattvertrag nimmt in seiner Vorbemerkung Bezug auf die Vorschriften des § 54 ff SchwbG, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrages im Jahre 2005 bereits außer Kraft gesetzt gewesen und durch Vorschriften des SGB IX abgelöst worden sind.
§ 8 Abs. 6 des abgeschlossenen Vertrages lautet wie folgt:
"Die Werkstatt verpflichtet sich, vor Kündigung des Vertrages aus dem in Abs. 5 genannten Grund die Stellungnahme des Fachausschusses einzuholen. Die Beschäftigtenvertretung (dem Werkstattrat) ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, sofern dem die/der Beschäftige nicht widerspricht. Bei fristloser Beendigung werden die Stellungnahmen nachträglich eingeholt. Die Beendigung des Vertrages nach Abs. 5 wird erst bei Zustimmung durch den Fachausschuss wirksam."
Der Vertrag kann nach § 8 Abs. 5 beendet werden, soweit die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Werkstatt nicht mehr vorliegen. Er kann bei erheblicher Selbst- oder Fremdgefährdung fristlos beendet werden.
Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 100 % anerkannt. Sein Vater ist zum Einzelvormund bestellt. Er leidet an einer seltenen Chromosomen-Störung in Form des Smith-Magenis-Syndroms. Seine geistige Leistungsfähigkeit ist eingeschränkt und seine motorische Entwicklung verzögert. Aufgrund seiner beschränkten Einsatzfähigkeit ist er bei der Beklagten nicht in der Werkstatt, sondern im Förderungsbereich untergebracht. Auch dort hat er allerdings tatsächliche Tätigkeiten geleistet, etwa Schreddern und das Prüfen von Kaminanzündern. Sein durchschnittliches Monatseinkommen beläuft sich auf einen Betrag in Höhe von € 101,50.
Die Beklagte differenziert ihr Angebot nach "Werkstattbereich" und "Förderbereich", der als "FBB" bezeichnet wird. Der Tagesablauf orientiert sich an der jeweiligen Beeinträchtigung sowie an den Arbeitsangeboten. Im Förderbereich werden von 8.30 - 10.00 Uhr und 12.00 - 14.30 Uhr arbeitsauftragsbezogene Arbeiten abgewickelt, etwa Schreddern oder Prüfen von K-Lumets, den Kaminanzündern. Zudem gibt es Übungen zum selbständigen Essen und der Körperhygiene.
Die ersten drei Beschäftigungsjahre des Werkstattverhältnisses in T. verliefen relativ unproblematisch. Seit Ende des Jahres 2008 kommt es beim Kläger verme...