Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung des Gleichheitssatzes durch Gewährung von Altersfreizeit für Mitarbeiter mit einer Arbeitszeit von mehr als 35 Stunden wöchentlich ab dem 57. Lebensjahr

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Manteltarifvertrag der chemischen Industrie für die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein und Berlin (West) vom 24. Juni 1992 in der Fassung vom 8. Mai 2003 (MTV chemische Industrie) räumt vollzeitbeschäftigten Mitarbeitern ab dem 57. Lebensjahr eine wöchentliche Altersfreizeit von 2,5 Stunden ein. Mitarbeiter mit einer Arbeitszeit zwischen 35 und 37,5 Stunden wöchentlich erhalten eine entsprechend reduzierte Altersfreizeit, Mitarbeiter mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35 oder weniger Stunden erhalten keine Altersfreizeit. Dies stellt eine Ungleichbehandlung wegen der Teilzeitarbeit im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG dar.

2. Die Ausgestaltung der Altersfreizeit und insbesondere die Festlegung der Lage überlässt der MTV chemische Industrie den Betriebsparteien. Für die Frage, ob eine Ungleichbehandlung wegen Teilzeit gerechtfertigt ist, kommt es daher auch auf diese Ausgestaltung an.

3. Räumen die Betriebsparteien den altersfreizeitberechtigten Mitarbeitern eine Gutschrift der Freizeiten auf einem Arbeitszeitkonto ein, welche nicht im zeitlichen Zusammenhang mit der Woche, für die sie gewährt werden, in Anspruch genommen werden müssen, sondern vielmehr nur in Form ganzer Tage zusammengefasst genommen werden können, ist dies nicht geeignet, die vom Arbeitgeber behauptete gegenüber Teilzeitbeschäftigten qualitativ andere Belastung durch die Arbeitszeit jenseits der 35. Wochenstunde auszugleichen.

4. Eine sachlich nicht gerechtfertigte Benachteiligung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer ist durch "Anpassung nach oben" bis zu der Höhe, die dem Umfang des Anteils ihrer Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht, zu beseitigen.

 

Normenkette

TzBfG § 4 Abs. 1 S. 1; MTV Chemische Industrie vom 24.06.1992 § 2a Fassung: 2003-05-08

 

Verfahrensgang

ArbG Wuppertal (Entscheidung vom 25.06.2015; Aktenzeichen 6 Ca 615/15)

 

Tenor

  1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Wuppertal vom 25. Juni 2015 Az: 6 Ca 615/15 abgeändert.
  2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger weitere 6,00 Stunden auf seinem Arbeitszeitkonto (GLAZ) für den Monat Dezember 2014 gutzuschreiben.
  3. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger weitere 10,00 Stunden auf seinem Arbeitszeitkonto (GLAZ) für den Monat Januar 2015 gutzuschreiben.
  4. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger weitere 8,00 Stunden auf seinem Arbeitszeitkonto (GLAZ) für den Monat Februar 2015 gutzuschreiben.
  5. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger weitere 8,00 Stunden auf seinem Arbeitszeitkonto (GLAZ) für den Monat März 2015 gutzuschreiben.
  6. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger weitere 8,00 Stunden auf seinem Arbeitszeitkonto (GLAZ) für den Monat April 2015 gutzuschreiben.
  7. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger weitere 10,00 Stunden auf seinem Arbeitszeitkonto (GLAZ) für den Monat Mai 2015 gutzuschreiben.
  8. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger weitere 10,00 Stunden auf seinem Arbeitszeitkonto (GLAZ) für den Monat Juni 2015 gutzuschreiben.
  9. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger weitere 10,00 Stunden auf seinem Arbeitszeitkonto (GLAZ) für den Monat Juli 2015 gutzuschreiben.
  10. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
  11. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagte zu 4/5 und der Kläger zu 1/5.
  12. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über einen Anspruch des Klägers auf tarifliche Altersfreizeit.

Der am 11.12.1957 geborene Kläger ist seit dem 01.09.1975 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerinnen zunächst als Auszubildender und seit 31.01.1979 aufgrund Einstellungsvertrag vom 06./12.02.1979 als Chemielaborant zu einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt € 4.678,45 beschäftigt. Gemäß Ziff. 3. des Arbeitsvertrages ist der Manteltarifvertrag (im Folgenden MTV) in seiner jeweils geltenden Fassung Bestandteil des Vertrages.

Nach § 2 I Ziff. 1 Abs. 1 Satz 1 MTV beträgt die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit 37,5 Stunden. Nach § 2 I Ziff. 3 MTV kann abweichend von der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit eine bis zu zweieinhalb Stunden längere oder kürzere regelmäßige Arbeitszeit festgelegt werden.

Seit dem 01.12.2012 war die Arbeitszeit des Klägers reduziert. Mit Vereinbarung vom 10.11.2014 verlängerten die Parteien die Arbeitszeitänderung bis zum 30.11.2016. Danach ist der Kläger 30,00 Stunden in der Woche beschäftigt. Wegen der Einzelheiten der Vereinbarung wird auf die zur Akte gereichte Kopie verwiesen (Bl. 7 f. d. A.).

Der MTV enthält folgende Regelung zur Altersfreizeit:

"§ 2a

Altersfreizeiten

1.Arbeitnehmer, die das 57. Lebensjahr vollendet haben, erhalten eine zweieinhalbstündige Altersfreizeit je Woche.

Soweit für Arbeitnehmer aufgrund einer Reg...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge