Entscheidungsstichwort (Thema)

Entbindung von Weiterbeschäftigungspflicht. Unzumutbare wirtschaftliche Belastungen. Entbindung des Arbeitgebers von der Weiterbeschäftigungspflicht - Entscheidung im einstweiligen Verfügungsverfahren - Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung. Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung bei wirtschaftlichen Belastungen - Betriebsstilllegung als wirtschaftliche Belastung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Entscheidung über die Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht nach § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG muss die Frage des Bestehens des Weiterbeschäftigungsanspruchs nach Satz 1 der Norm grundsätzlich dahingestellt bleiben, sofern die Parteien jedenfalls von seinem Bestehen ausgehen oder zumindest darüber streiten und der Anspruch nicht offensichtlich ausgeschlossen werden kann. Denn die gerichtliche Entscheidung über die Entbindung ergeht trotz ihrer gestaltenden Wirkung ausnahmsweise im einstweiligen Verfügungsverfahren und dazu mit endgültiger Wirkung, während das Bestehen des zugrundeliegenden Weiterbeschäftigungsanspruchs endgültig erst im Hauptverfahren geklärt werden kann.

2. Eine unzumutbare wirtschaftliche Belastung i.S.v. § 102 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 BetrVG aus der Pflicht zur tatsächlichen Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen kann im Falle einer Betriebsstilllegung vorliegen, wenn hierfür neben den reinen Entgeltkosten eigens mit hohem Aufwand eine betriebliche Infrastruktur aufrechterhalten werden müsste. In diesem Fall kann der Arbeitnehmer nicht geltend machen, der Arbeitgeber bräuchte - ohne ihn tatsächlich zu beschäftigen - lediglich das Entgelt zu zahlen. Dies gilt unabhängig von den Erfolgsaussichten im Kündigungsschutzprozess.

 

Normenkette

BetrVG § 102 Abs. 5

 

Verfahrensgang

ArbG Düsseldorf (Entscheidung vom 17.12.2012; Aktenzeichen 14 Ga 77/12)

 

Tenor

Die Berufung des Verfügungsbeklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 17.12.2012 - 14 Ga 77/12 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

 

Gründe

A. Die Parteien streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über die Entbindung des Verfügungsklägers (Arbeitgebers) von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung des Verfügungsbeklagten (Arbeitnehmers) zu unveränderten Arbeitsbedingungen (§ 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG). Von der weiteren Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.

B. Die zulässige Berufung des Verfügungsbeklagten ist nicht begründet. Zu Recht hat das Arbeitsgericht dem Antrag der Verfügungsklägerin auf Entbindung von ihrer Pflicht zur Weiterbeschäftigung des Verfügungsbeklagten stattgegeben.

I. Der Antrag ist zulässig, insbesondere besteht ein Rechtsschutzbedürfnis für die begehrte Entscheidung über die Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht.

Nach hier vertretener Auffassung muss bei der Entscheidung über die Entbindung die Frage des Bestehens des Weiterbeschäftigungsanspruchs nach § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG grundsätzlich dahingestellt bleiben, sofern die Parteien (wie hier) jedenfalls von seinem Bestehen ausgehen oder zumindest darüber streiten und der Anspruch nicht offensichtlich ausgeschlossen werden kann (ähnlich etwa LAG Schleswig-Holstein 19.05.2010 - 6 SaGa 9/10, [...]; LAG Rheinland-Pfalz 10.10.2006 - 2 Sa 492/06, [...]; LAG München 13.07.1994 - 5 Sa 408/94, [...], jeweils m.w.N.). Dies führt zwar zu einer isolierten Entscheidung darüber, ob Entbindungsgründe vorliegen, ohne zu klären, ob die zugrundeliegende Weiterbeschäftigungspflicht überhaupt besteht. Doch ist dies der besonderen gesetzlichen Regelungstechnik der gerichtlichen Entbindung geschuldet.

Einerseits hat nämlich die nicht zurückwirkende (BAG 07.03.1996 - 2 AZR 432/95, AP Nr. 9 zu § 102 BetrVG 1972 Weiterbeschäftigung) Entbindung gestaltende Wirkung, da sie zur Beendigung des möglicherweise bestehenden Weiterbeschäftigungsanspruchs nach § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG und damit des fortbestehenden Arbeitsverhältnisses führt. Diese Wirkung ist, obwohl die Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ergeht, vorbehaltlich einer Änderung der Verhältnisse und einer erneuten Entscheidung grundsätzlich endgültig und in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr überprüfbar. Andererseits bestehen ohne Entbindung (auch ohne tatsächliche Weiterbeschäftigung) möglicherweise der Weiterbeschäftigungsanspruch und das Arbeitsverhältnis fort und wachsen weitere Vergütungsansprüche des Arbeitnehmers an. Über das Bestehen eines Weiterbeschäftigungsanspruchs wird aber i.d.R. abschließend erst im Hauptsacheverfahren - etwa auf Zahlung von Verzugslohn - befunden (vgl. dazu etwa BAG 12.09.1985 - 2 AZR 324/84, NZA 1996, 930; BAG 07.12.2000 - 2 AZR 585/99, [...], Rn. 24 f.). In dieser Lage ist es für den Regelungszweck des § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG ausnahmsweise hinzunehmen und unausweichlich, dass die gerichtliche Entscheidung über die Entbindung vorsorglich und ohne Rücksicht auf das Bestehen eines Weiterbeschäftigungsanspruchs ergeht und damit quasi "in der Luft hängt". Das Dilemma beruht darauf, dass die geric...

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