Entscheidungsstichwort (Thema)
Örtliche Zuständigkeit der Agentur für Arbeit für die Massenentlassungsanzeige bei aufgelösten Betriebsstrukturen. § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG kein Verbotsgesetz i.S.d § 134 BGB. Angabe von Zeiträumen geplanter Kündigungen in der Massenentlassungsanzeige. Teilweise Parallelentscheidung zu LAG Düsseldorf 12 Sa 279/21 vom 13.01.2021
Leitsatz (amtlich)
Zur zuständigen Behörde für die Massenentlassungsanzeige bei einer aufgelösten betrieblichen Struktur (weitgehende Parallelentscheidung zu LAG Düsseldorf 13.10.2021 - 12 Sa 279/21)
Leitsatz (redaktionell)
1. Sinn und Zweck der Massenentlassungsanzeige sind der wesentliche Anhaltspunkt für die örtliche Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit. Dort, wo sich typischerweise die Auswirkungen von Massenentlassungen entfalten, soll die Agentur für Arbeit zuständig sein. Maßgeblich ist deshalb bei einer aufgelösten Betriebsstruktur die letzte feststellbare örtliche Bindung der Arbeitnehmer an den - ehemaligen - Betrieb.
2. Durch die von § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG verlangten Vorabinformationen kann die Vermittlungstätigkeit der Agentur für Arbeit nur begrenzt vorbereitet werden, da noch nicht feststeht, ob überhaupt und ggfs. wie viele Arbeitnehmer gekündigt werden. Ein Verbotsgesetz wäre nur dann anzunehmen, wenn die Vorschrift von ihrem Inhalt her einen solchen Schutzzweck aufweist, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer vor Arbeitslosigkeit bewahren soll. Dies verlangt § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG aber nicht.
3. Die Angabe eines Zeitraums für geplante Kündigungen in der Massenentlassungsanzeige birgt immer die Gefahr von Fehlangaben. Wann die beabsichtigten Kündigungen ausgesprochen werden, hängt meistens noch von zahlreichen Fakten ab, die nicht allein in der Macht des Arbeitgebers liegen. Es reicht deshalb aus, wenn der Arbeitgeber den Monat angibt, in dem die Kündigungen voraussichtlich zugehen werden.
Normenkette
KSchG § 17; RL 98/59/EG (MERL) v. 20.07.1998 Art. 2 Abs. 4; RL 98/59/EG (MERL) v. 20.07.1998 Art. 3 Abs. 1; BetrVG § 102 Abs. 1, § 117 Abs. 2; InsO § 113; KSchG § 1 Abs. 1-2, § 6; BGB § 134
Verfahrensgang
ArbG Düsseldorf (Entscheidung vom 07.07.2021; Aktenzeichen 8 Ca 658/21) |
ArbG Düsseldorf (Entscheidung vom 22.06.2021; Aktenzeichen - 16 Ca 5426/20) |
Tenor
Die Berufungen des Klägers gegen die Urteile des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 22.06.2021 - 16 Ca 5426/20 - und vom 07.07.2021 - 8 Ca 658/21 - werden kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die betriebsbedingte Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses.
Der Beklagte ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der Air L. PLC & Co. Luftverkehrs KG (iF: Schuldnerin). Der 1962 geborene, verheiratete Kläger ist seit dem 01.10.1999 bei der Schuldnerin bzw. ihrer Rechtsvorgängerin beschäftigt. Er war tätig als Flugzeugkapitän und verdiente zuletzt monatlich durchschnittlich EUR 12.912,82 brutto. Er war auf dem dienstlichen Einsatzort Düsseldorf stationiert. Auf das Arbeitsverhältnis findet ua. der MTV Nr. 11 Kabinenpersonal LTU Anwendung, der in § 50 Abs. 3 nach Vollendung des 50. Lebensjahres und mindestens 15 Jahren Beschäftigungszeit nur noch eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zulässt.
Bei der Schuldnerin handelte es sich um eine Fluggesellschaft mit Sitz in L. und Stationen an verschiedenen Flughäfen. Die Schuldnerin beschäftigte mit Stand August 2017 mehr als 6.000 Arbeitnehmer im Cockpit, in der Kabine und am Boden.
Für das Cockpitpersonal der Schuldnerin war gemäß § 117 Abs. 2 BetrVG durch Abschluss des "Tarifvertrags Personalvertretung (TV PV) für das Cockpitpersonal der Air L. PLC & Co. Luftverkehrs KG" (iF.: TV PV Cockpit) eine Personalvertretung (iF.: PV Cockpit) gebildet. Für das Kabinenpersonal wurde durch den "Tarifvertrag Personalvertretung (iF.: TV PV Kabine) für das Kabinenpersonal der Air L. PLC & Co. Luftverkehrs KG" die Personalvertretung Kabine (iF.: PV Kabine) errichtet. Beide Gremien hatten ihren Sitz in L.. Das Bodenpersonal vertraten die regional zuständigen Betriebsräte (Boden Nord, West und Süd) und der Gesamtbetriebsrat. § 74 TV PV Kabine und TV PV Cockpit sehen die Anhörung der PV Kabine bzw. der PV Cockpit vor Ausspruch einer beabsichtigten Kündigung vor.
Die Schuldnerin bediente im Linienflugverkehr Ziele in Europa, Nordafrika, Israel sowie in Nord- und Mittelamerika und unterhielt Stationen an den Berlin-Tegel, Düsseldorf, München, Frankfurt am Main, Stuttgart, Hamburg, Köln, Paderborn, Nürnberg und Leipzig. Die Langstreckenflüge wurden in erster Linie von den Drehkreuzen in Berlin-Tegel und Düsseldorf aus durchgeführt.
Das fliegende Personal trat am sog. Stationierungsort (home base bzw. Heimatbasis) seinen Dienst an und beendete ihn dort. Soweit Personal auf Flügen von anderen Flughäfen als dem vereinbarten Dienstort eingesetzt wurde, erfolgte dies in Form des sog. proceeding. Das Personal fand sich dabei zunächst am Dienstort ein und wurde von dort zum Einsatzflughafen gebrach...