Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebliche Übung und betriebliche Altersversorgung. Leistungen aus der betrieblichen Altersversorgung. Ticket für den Verkehrsverbund als Leistung der betrieblichen Altersversorgung. Betriebsvereinbarungsoffenheit kollektiver Versorgungszusagen
Leitsatz (redaktionell)
1. Im Bereich der betrieblichen Altersversorgung hat der Gesetzgeber die betriebliche Übung als Rechtsquelle ausdrücklich anerkannt (§ 1b Abs. 1 S. 4 BetrAVG). Danach steht die Verpflichtung aus einer Versorgungszusage einer auf betrieblicher Übung beruhenden Versorgungsverpflichtung gleich.
2. Leistungen aus der betrieblichen Altersversorgung i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG sind nicht nur Geldleistungen. Auch Sach- und Nutzungsleistungen sowie im Ruhestand gewährte Personalrabatte können Leistungen der betrieblichen Altersversorgung sein. Es spielt dabei keine Rolle, ob derartige Leistungen zugleich den aktiven Mitarbeitern gewährt werden.
3. Gewährt der Arbeitgeber kraft betrieblicher Übung den Mitarbeitern und Betriebsrentnern ein kostenloses Ticket zur Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel, so ist dies eine Leistung der betrieblichen Altersversorgung. Sie ist durch ein biometrisches Ereignis ausgelöst und dient der Sicherung des Lebensstandards der Arbeitnehmer im Ruhestand.
4. Betriebsvereinbarungsoffenheit ermöglicht den Betriebsparteien nicht, schrankenlos in durch eine Versorgungszusage begründete Besitzstände der Arbeitnehmer einzugreifen. Bei einer Ablösung gelten die Grundsätze des Vertrauensschutz und der Verhältnismäßigkeit. Diese erfordern ein dreistufiges Prüfungsschema je nach dem Maß der erdienten Anwartschaft.
Normenkette
BetrAVG § 1 Abs. 1 S. 1, § 1b Abs. 1 S. 4, § 2 Abs. 1, § 2
Verfahrensgang
ArbG Essen (Entscheidung vom 11.01.2017; Aktenzeichen 4 Ca 1860/16) |
Nachgehend
Tenor
I.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Essen vom 11.01.2017 - 4 Ca 1860/16 - abgeändert und zum Zwecke der Klarstellung in der Hauptsache wie folgt neu gefasst:
- Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab Rechtskraft dieses Urteils ein Ticket 1000 der Preisstufe D des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR) lebenslang zu gewähren.
- Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger die von ihm seitdem 01.05.2016 bis zur Rechtskraft des Urteils in dem vorliegenden Rechtsstreit aufgewandten Kosten für Tickets im Verkehrsverbund Rhein Ruhr (VRR) zu erstatten, die nicht über das Ticket 1000 der Preisstufe A3 abgedeckt waren.
II.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten auferlegt.
III.
Die Revision wird für beide Parteien zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Wesentlichen über einen Anspruch des Klägers auf Überlassung eines kostenlosen Tickets zur Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs für sich selbst, sowie die Einordnung dieser Leistung als eine der betrieblichen Altersversorgung.
Die Beklagte ist ein Unternehmen, welches für die Stadt F. den öffentlichen Nahverkehr betreibt. Der am 13.02.1953 geborene Kläger wurde zum 01.02.1978 als Omnibusfahrer eingestellt. Der Arbeitsvertrag enthielt u.a. folgende Regelung:
"§ 2
Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach den Bestimmungen des Bundesmanteltarifvertrages für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G) vom 22. Mai 1953 und der zusätzlich abgeschlossenen Tarifverträge - insbesondere des Bezirkszusatztarifvertrages (BZT-G/NRW) - in ihrer jeweils geltenden Fassung. Das gleiche gilt für die an deren Stelle tretenden Tarifverträge. Daneben finden die für den Bereich des Arbeitgebers jeweils in Kraft befindlichen sonstigen Tarifverträge, betrieblichen Vereinbarungen und die Dienst- bzw. Arbeitsordnung Anwendung."
Die Beklagte stellte in der Vergangenheit ihren Mitarbeitern und deren Ehepartnern auf Antrag ein unentgeltliches Ticket zur Nutzung der Verkehrsmittel im öffentlichen Nahverkehr zur Verfügung. Zeitweise warb sie auf Fahrzeugen für Mitarbeiter mit einer Aufschrift, die sinngemäß lautete: "Als Mitarbeiter der F. haben Sie und Ihre Frauen immer freie Fahrt."
Grundlage der Gewährung in der Vergangenheit waren zunächst "Bestimmungen über die Gewährung von Dienstausweisen, Frei-Fahrkarten, Familien-Fahrkarten, Lehrlings- und Schülerkarten" vom 25.10.1958, die u.a. folgendes beinhalteten:
"/. Dienstausweise
...
b) Die Verkehrsaufseher ... erhalten einen Dienstausweis mit rotem Band, der gleichzeitig für Freifahrt auf unserem Straßenbahn- und Omnibusstreckennetz (außer Fernlinien) Gültigkeit hat.
c) Sämtliche im Fahrdienst beschäftigten Belegschaftsmitglieder... erhalten einen Dienstausweis. Freifahrtberechtigung wie b).
//. Frei-Fahrkarten
...
III. Familien-Fahrkarten
1. Verheiratete männliche Belegschaftsmitglieder erhalten eine Familien-Fahrkarte, gültig für die Ehefrau des Belegschaftsmitgliedes, ...
Getrennt lebende und geschiedene Ehefrauen unserer Belegschaftsmitglieder erhalten keine Frei-Fahrkarte. ...
V. Frei-Fahrkarten für Pensionäre und deren Familienang...