Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft. Organisationsgrad als Maßstab für die Durchsetzungsfähigkeit einer Gewerkschaft
Leitsatz (amtlich)
1. Einer Gewerkschaft fehlt die Tariffähigkeit, wenn sie nicht über eine in ihrer Mitgliederstärke ausgedrückte hinreichende Durchsetzungsfähigkeit verfügt und sie auch nicht in einem zumindest relevanten Teil ihres selbstgewählten Zuständigkeitsbereichs langjährig am Tarifgeschehen teilgenommen hat (vgl. BAG, Beschluss vom 26. Juni 2018 - 1 ABR 37/16 -, Rn. 79-80, juris). Dabei ist fraglich, ob ein Organisationsgrad von lediglich etwa 1,6% für die zur Anerkennung der Tariffähigkeit erforderliche soziale Mächtigkeit ausreicht (vgl. BAG, Beschluss vom 28. März 2006 - 1 ABR 58/04 -; Rn. 79, juris).
2. Einer Gewerkschaft, die in einer Vielzahl von (hier: 15) selbstgewählten Zuständigkeitsbereichen ihre Mitglieder organisiert, fehlt die Durchsetzungsfähigkeit, wenn ihre Organisationsgrade zwar 2,65% und 2,39% in zwei Zuständigkeitsbereichen erreichen, diese Bereiche zusammen aber nur 4,81% des Gesamtzuständigkeitsbereichs betreffen und die Organisationsgrade in allen anderen Zuständigkeitsbereichen jeweils deutlich, teils sogar erheblich unter 1,6% liegen.
Leitsatz (redaktionell)
Eine Koalition muss sich als satzungsgemäße Aufgabe die Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder in deren Eigenschaft als Arbeitnehmer gesetzt haben und willens sein, Tarifverträge zu schließen. Sie muss frei gebildet, gegnerfrei, unabhängig und auf überbetrieblichen Grundlagen organisiert sein und das geltende Tarifrecht als verbindlich anerkennen. Darüber hinaus muss sie über Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler und über eine leistungsfähige Organisation verfügen.
Normenkette
GG Art. 9 Abs. 3; ArbGG § 97; GRCh Art. 28, 51 Abs. 2; EMRK Art. 11; Erster Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 Abschn. A III 2; ESC Teil II Art. 5-6; AEUV Art. 153 Abs. 5; TVG § 2 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Hamburg (Entscheidung vom 19.06.2015; Aktenzeichen 1 BV 2/14) |
Nachgehend
Tenor
Die Beschwerden der Beteiligten zu 5. und zu 11. gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Hamburg vom 19. Juni 2015 - 1 BV 2/14 - werden mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass dieser Beschluss wie folgt gefasst wird:
Es wird festgestellt, dass die Beteiligte zu 5. seit dem 21. April 2015 nicht tariffähig ist.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen, nicht jedoch für die Beteiligten zu 1. bis 4. und zu 10.
Gründe
A.
Die Beteiligten streiten über die Tariffähigkeit der zu 5. beteiligten DHV - Die Berufsgewerkschaft e. V. (künftig: "die DHV").
Die DHV wurde 1893 als Handlungsgehilfenverband gegründet und nach ihrer Neugründung am 01. Oktober 1950 als "Deutscher Handlungsgehilfen-Verband e.V., Gewerkschaft der Kaufmannsgehilfen" am 20. Dezember 1950 in das Vereinsregister Hamburg eingetragen. 1956 benannte sie sich in die bis Oktober 2006 beibehaltene Bezeichnung "DHV - Deutscher Handels- und Industrieangestellten-Verband e.V." um. Entsprechend ihrer am 28./29. Oktober 2006 beschlossenen Satzung heißt sie "DHV - Die Berufsgewerkschaft e.V.". Ihr Organisationsbereich erstreckt sich über das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Sie gliedert sich in neun Landesverbände und hat nach eigenen Angaben etwa 24.000 Tarifverträge geschlossen, zu Warnstreiks aufgerufen und Tarifverhandlungen ggf. auch abgebrochen. Die Zahl ihrer Mitglieder gibt sie mit 75.065 (Stand 31. Dezember 2014) und 73.451 (Stand 19. Januar 2016) an.
Die Tariffähigkeit der DHV war in der Vergangenheit mehrfach Gegenstand von Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen. Das Arbeitsgericht Hamburg stellte mit rechtskräftigem Beschluss vom 10. Dezember 1956 (- 2 BV 366/1956 -) fest, "dass der Beteiligte zu 4)" (DHV-Deutscher Handels- und Industrieangestellten-Verband e.V.) "eine tariffähige Gewerkschaft im Sinne des § 2 Abs. 1 TVG ist". Mit Beschluss vom 07. Februar 1980 wies das Arbeitsgericht Hamburg (- 1 BV 15/78 -) einen Antrag der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen auf Feststellung der Tarifunfähigkeit der DHV als unbegründet ab. Die dagegen gerichtete Beschwerde blieb vor dem Landesarbeitsgericht Hamburg ohne Erfolg (29. Oktober 1980 - 5 TaBV 1/80 -). Es hielt den Antrag für unzulässig, weil "die Rechtskraft des Beschlusses des Arbeitsgerichts Hamburg vom 10. Dezember 1956 ist auch heute noch in diesem Verfahren zu beachten". Einen Antrag des Landes Hessen auf Feststellung, dass die DHV keine tariffähige Gewerkschaft ist, wies das Arbeitsgericht Hamburg am 11. August 1992 (- 1 BV 8/92 -) als unzulässig ab. Ein auf das Fehlen der Tariffähigkeit der DHV gerichteter Antrag der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) wurde in der Beschwerdeinstanz vom Landesarbeitsgericht Hamburg am 18. Februar 1997 als unzulässig bewertet (- 2 TaBV 9/95 -). Ihm stehe die Rechtskraft des Beschlusses des Arbeitsgeri...