Entscheidungsstichwort (Thema)
Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG. Vorrang der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrats vor der Sperrwirkung im nicht tarifgebundenen Betrieb. Arbeitsvertragliche Ansprüche aus einer Gesamtzusage. Umdeutung einer unwirksamen Betriebsvereinbarung in eine Gesamtzusage oder in gebündelte Vertragsangebote
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Eine dagegen verstoßende Betriebsvereinbarung ist unwirksam. Diese Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG hängt nicht davon ab, ob der Arbeitgeber tarifgebunden ist oder nicht. Die Vorschrift soll nämlich die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisten.
2. Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG tritt in Betrieben eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers nur insoweit ein, wie der betreffende Regelungsgegenstand nicht der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 BetrVG unterliegt. Anderenfalls gäbe es in diesen Betrieben weder eine tarifliche Regelung, noch könnte es eine betrieblich mitbestimmte Regelung geben. Dies liefe dem Schutzzweck des § 87 Abs. 1 BetrVG zuwider.
3. Eine Gesamtzusage ist die an alle Arbeitnehmer des Betriebs in allgemeiner Form gerichtete ausdrückliche Erklärung des Arbeitgebers, bestimmte Leistungen erbringen zu wollen. Eine ausdrückliche Annahme des in der Erklärung enthaltenen Antrags i.S.v. § 145 BGB wird dabei nicht erwartet. Das in der Zusage liegende Angebot wird gem. § 151 BGB angenommen und damit ergänzender Inhalt des Arbeitsvertrags. Die Arbeitnehmer erwerben einen einzelvertraglichen Anspruch auf die zugesagten Leistungen, wenn sie die betreffenden Anspruchsvoraussetzungen erfüllen.
4. Grundsätzlich kann eine nach § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksame Betriebsvereinbarung entsprechend § 140 BGB in eine vertragliche Einheitsregelung (Gesamtzusage oder gebündelte Vertragsangebote) umgedeutet werden. An eine solche Umdeutung sind strenge Anforderungen zu stellen. Sie kommt nur in Betracht, wenn besondere Umstände die Annahme rechtfertigen, der Arbeitgeber habe sich unabhängig von der Betriebsvereinbarung auf jeden Fall verpflichten wollen, seinen Arbeitnehmern die in ihr vorgesehenen Leistungen zukommen zu lassen. Ein hypothetischer Wille des Arbeitgebers, sich unabhängig von der Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung auf Dauer zu binden, kann daher nur in Ausnahmefällen angenommen werden.
Normenkette
BetrVG § 77 Abs. 3, § 87 Abs. 1; GG Art. 9 Abs. 3; BGB §§ 140, 145, 151; Betriebsvereinbarung (BV 97) § 17 Fassung: 1987-08-01
Verfahrensgang
ArbG Hamburg (Entscheidung vom 04.05.2016; Aktenzeichen 28 Ca 454/15) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 4. Mai 2016 - 28 Ca 454/15 - teilweise abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 2.029,62 brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Dezember 2015 zu zahlen.
Die weitergehende Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat ¼, die Beklagte hat ¾ der Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Zahlung einer monatlichen Entgelterhöhung seit August 2015 sowie des Weihnachtsgeldes für das Jahr 2015.
Der Kläger steht seit dem 1. August 2002 in einem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten. Er ist in der Auftragsannahme tätig. Er bezog zuletzt ein regelmäßiges Bruttomonatseinkommen in Höhe von € 3.247,39. Dieses bestand aus einem Grundgehalt von € 3.094,00 und einer Zulage in Höhe von € 153,39 und wurde auf der Grundlage einer Betriebsvereinbarung aus dem Jahre 1997 gezahlt.
Die Betriebsvereinbarung vom 1. August 1997 (im Folgenden: BV 97) beinhaltet unter anderem auch Regelungen über Gehaltszahlungen und Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld. In der Präambel der Betriebsvereinbarung heißt es:
"Präambel:
Ziel der Konzeption einer Betriebsvereinbarung war die Schaffung eines Gehalts- und Arbeitszeitsystems, das für jeden Mitarbeiter nachvollziehbar, einsehbar und leistungsgerecht ist.
Ferner sollen die gesetzlichen Ladenschlußzeiten des Einzelhandel in gerechte Rahmenbedingungen gefügt werden.
Als Grundlage wurden größtenteils bestehende Vereinbarungen genommen. Der Tarif berücksichtigt die Mindestforderungen des Einzelhandelstarifes in Hamburg soweit nicht andere Vereinbarungen getroffen werden und diese einen individuellen Leistungsausgleich berücksichtigen (Arbeitsvertrag). Eine Überarbeitung findet mindestens zum Zeitpunkt gültiger Tarifverhandlung des Einzelhandels statt.
Die nachstehenden Paragraphen ergänzen die Regelungen des Arbeitsrechtes und gelten als Bestandteil des Arbeitsvertrages (Individualvereinbarung).
Jedem G. wird eine Ausfertigung der Vereinbarung bei Beginn des Arbeitsverhältnisses zusammen mit dem Arbeitsvertrag übergeben.
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Inhaltsverzeichnis
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§ 9 Urlaub...