Entscheidungsstichwort (Thema)

Gleichheitswidrige Kürzung tariflicher Kündigungsfristen bei Abschluss eines Sozialplans

 

Leitsatz (amtlich)

1. Grundsätzlich liegt es in der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien, Kündigungsfristen abzukürzen und für alle Arbeitnehmer gleich lange Kündigungsfristen vorzusehen. Allerdings liegt ein Verstoß gegen Art. 3 GG vor, wenn die sonst geltenden, von der Dauer der Betriebszugehörigkeit abhängigen tariflichen Kündigungsfristen einheitlich erheblich verkürzt werden für den Fall, dass ein Sozialplan abgeschlossen worden ist. Allein der Umstand, dass ein Sozialplan gegeben ist, kann die Ungleichbehandlung nicht in angemessener Form rechtfertigen.

2. Werden von der Dauer der Betriebszugehörigkeit abhängige tarifliche Kündigungsfristen einheitlich für den Fall, dass ein Sozialplan abgeschlossen worden ist, erheblich abgekürzt, liegt zugleich ein nicht gerechtfertigter Verstoß gegen §§ 7, 1 AGG vor.

 

Normenkette

GG Art. 3; BGB § 622 Abs. 2 S. 1; AGG §§ 7, 1; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3; BGB § 622 Abs. 4 S. 1; AGG § 3 Abs. 2, § 7 Abs. 1 Hs. 1; RTV § 15 Nr. 1 Abs. 3

 

Verfahrensgang

ArbG Hamburg (Entscheidung vom 18.05.2017; Aktenzeichen 15 Ca 571/16)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 24.10.2019; Aktenzeichen 2 AZR 102/18)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 18. Mai 2017 (15 Ca 571/16) teilweise abgeändert.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 24. November 2016 nicht zum 31. Dezember 2016, sondern zum 31. Dezember 2017 beendet worden ist.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Berufung des Klägers im Übrigen wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz trägt die Beklagte zu 22 %, der Kläger zu 78 %.

Die Kosten des Rechtsstreits zweiter Instanz trägt die Beklagte zu 15 %, der Kläger zu 85 %.

Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien haben in der Berufungsinstanz über das Beendigungsdatum aufgrund einer Kündigung der Beklagten vom 24. November 2016 sowie über einen Anspruch auf Nachteilsausgleich bzw. einen Abfindungsanspruch gestritten.

Die Beklagte war bis zum 31. Dezember 2016 Betreiberin eines Hafenterminals im Bereich Container, Massengutumschlag, Projekt und Stückgut und RO/RO Verladung.

Der bei Klagerhebung 61jährige schwerbehinderte Kläger war bei der Beklagten bzw. ihren Rechtsvorgängern seit dem 1. März 1987 als technischer Angestellter in der Schiffsabfertigung beschäftigt mit einer zuletzt erzielten Monatsvergütung von € 7.166,00.

Auf das Arbeitsverhältnis fand der Rahmentarifvertrag für die technischen Angestellten in den Stückgut-Kaibetrieben (im Weiteren: RTV technische Angestellte) und die dazu jeweils abgeschlossenen Sonderbestimmungen Anwendung. Der RTV technische Angestellte enthält für die Kündigungsfristen unter § 15 die folgenden Regelungen:

1. Für die Kündigung gelten die gesetzlichen Kündigungsfristen.

Bei 15jährigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses beträgt die beiderseitige Kündigungsfrist neun Monate zum Ende eines Kalenderhalbjahres, wenn der Arbeitnehmer das 50. Lebensjahr vollendet hat.

Soweit Sozialpläne abgeschlossen wurden, beträgt die Kündigungsfrist einen Monat zum Monatsende.

2. [...]

Da der Mietvertrag für die Nutzung des Betriebsgeländes zum 31. Dezember 2016 auslief und eine Laufzeitverlängerung nicht zustande kam, wurde der Terminalbetrieb zum 31. Dezember 2016 stillgelegt. Die Beklagte kündigte allen beschäftigten Arbeitnehmern betriebsbedingt zum 31. Dezember 2016, darunter auch dem Kläger. Gegen die Kündigung vom 24. November 2016 (vgl. Anlage K 2, Bl. 12 f d.A.) hat sich der Kläger mit seiner am 2. Dezember 2016 bei Gericht eingegangenen Klage gewehrt, zuletzt allerdings nur noch auf die Feststellung einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses erst zum 31. Dezember 2017.

Den Kündigungen waren Verhandlungen mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich vorangegangen. Diese scheiterten nach fünf Sitzungen der Einigungsstelle in der sechsten Sitzung am 14. September 2016. Am selben Tag wurde gegen die Stimmen des Betriebsrates durch Spruch der Einigungsstelle ein Sozialplan beschlossen (vgl. Anlage B 3, Bl. 51 ff d.A.).

Dieser enthält unter "§ 1 persönlicher Geltungsbereich, Ausschlusstatbestände" folgende Regelungen:

(1) [...]

(2) Keine Leistungen nach den Bestimmungen dieses Sozialplans erhalten Mitarbeiter (Ausschlusstatbestände),

...

** die entweder unmittelbar nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis oder im Anschluss an eine mögliche Bezugnahme von Arbeitslosengeld I (unabhängig von der tatsächlichen Bezugnahme des Arbeitslosengeldes) eine Altersrente (gekürzt oder ungekürzt) aus der gesetzlichen Rentenversicherung in Anspruch nehmen können (sog. "rentennahe Arbeitnehmer"), wobei eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen gemäß §§ 37, 236a SGB VI sowie eine Altersrente für Frauen gemäß § 237a SGB VI außer Betracht bleibt."

§ 4 des Sozialplans beinhaltet Regelungen zur Berechnung der zu zahle...

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