Entscheidungsstichwort (Thema)

Abmahnung vor Ausspruch einer Kündigung. Gründe für eine gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt in der Regel das Erfordernis einer Abmahnung vor Ausspruch einer verhaltensbedingten ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung. Hat der Beschäftigte eine E-Mail mit Werturteilen, aber ohne falsche Tatsachenbehauptungen, an den Vorstand der Muttergesellschaft geschrieben, kann dies zwar eine Pflichtverletzung darstellen, rechtfertigt aber ohne vorherige Abmahnung keine Kündigung. Denn die Abmahnung bewirkt im Normalfall, dass der Beschäftigte sein Verhalten überdenkt und solche Pflichtverletzungen in Zukunft unterlässt.

2. Eine gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf Antrag des Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG kommt nur ausnahmsweise in Betracht und erfordert gravierende Auflösungsgründe, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit nicht erwarten lassen. Abzuwägen sind das Interesse des Beschäftigten an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes gegen das Interesse des Arbeitgebers, nur Mitarbeiter zu beschäftigen, die seinen Vorstellungen entsprechen. Für das Vorliegen triftiger Auflösungsgründe trägt der Arbeitgeber die volle Darlegungs- und Beweislast.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2, § 9 Abs. 1 S. 2, § 10; BGB §§ 242, 611

 

Verfahrensgang

ArbG Hamburg (Entscheidung vom 12.12.2019; Aktenzeichen 15 Ca 295/19)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 12.12.2019 (15 Ca 295/19) wird zurückgewiesen.

2. Der Auflösungsantrag der Beklagten wird zurückgewiesen.

3. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

4. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung der Beklagten, die vorläufige Weiterbeschäftigung der Klägerin sowie einen Auflösungsantrag der Beklagten.

Wegen des Sach- und Streitstands in erster Instanz wird gemäß § 69 II ArbGG auf die Feststellungen im angefochtenen Urteil (Bl.225 - 230 d.A.) Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Entscheidungsgründe (Bl. 230 - 234 d.A.) wird ebenfalls Bezug genommen.

Gegen das am 12.12.2019 verkündete und den Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 27.01.2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 24.02.2020 Berufung eingelegt und diese - nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 14.05.2020 - an diesem Tag begründet.

Die Beklagte ist der Ansicht, das Arbeitsgericht habe die Kündigung zu Unrecht als unwirksam bewertet. Es habe die an den Vorstand der Muttergesellschaft gerichtete E-Mail vom 08.04.2019 zu Unrecht als substanzlos gewertet und den Grad der Pflichtverletzung der Klägerin deshalb fehlerhaft bewertet. Das Arbeitsgericht habe darüber hinaus verkannt, dass eine Abmahnung nicht zu einer Besserung geführt hätte. Dies belege das Verhalten der Klägerin nach der E-Mail. Das Arbeitsgericht habe widersprüchlich argumentiert, da es außer einer Abmahnung weitere Maßnahmen für erforderlich gehalten habe, um die Klägerin zu vertragsgemäßem Verhalten zu veranlassen. Die vom Arbeitsgericht genannten Maßnahmen seien der Beklagten nicht zumutbar gewesen. Das Arbeitsgericht habe den Schweregrad der Pflichtverletzung der Klägerin durch deren Schreiben vom 28.05.2019 vollkommen verkannt und sei deshalb zu einer falschen Bewertung gelangt. Den Vorfall vom 31.05.2019 habe das Arbeitsgericht ebenfalls falsch bewertet und zudem Beweisangebote der Beklagten übergangen. Weiterhin habe das Arbeitsgericht übersehen, dass die von der Klägerin in ihrer Mail vom 08.04.2019 sowie im Schreiben vom 28.05.2019 aufgestellten Tatsachenbehauptungen bereits objektiv aus zeitlichen Gründen nicht wahr sein könnten. Schließlich habe das Arbeitsgericht eine fehlerhafte Gesamtabwägung vorgenommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Berufungsbegründung (Bl. 258 - 282 d.A.) Bezug genommen.

In der mündlichen Verhandlung am 10.09.2020 hat die Beklagte hilfsweise die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gemäß §§ 9,10 KSchG beantragt und im Schriftsatz vom 05.10.2020 (Bl. 314 - 366 d.A.), auf dessen Inhalt ebenfalls Bezug genommen wird, wie folgt begründet.

Es habe ein weiteres Verfahren vor dem LAG Hamburg (4 Ta 10/20) gegeben, an dem neben der hiesigen Beklagten die Zeugin XXX, ehemalige Leiterin des Infopoints, beteiligt gewesen seien. Die Versetzung der Zeugin XXX sei Auslöser der E-Mail vom 08.04.2019 und des Schreibens vom 28.05.2019 gewesen. Die Zeugin XXX habe in dem dortigen Verfahren vorgetragen, am 05.12.2015 sei ihre Tochter, die vom 19.03.2013 bis zum 31.12.2017 als Teilzeitkraft am Infopoint tätig gewesen sei, von einem Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes sexuell belästigt worden. Dies hätten die Klägerin und die Zeugin XXX am 07.12.2015 ihrer Vorgesetzten, der Zeugin XXX, mitgeteilt. Am 09.12.2015 habe die Zeugin XXX die Zeugin XXX gebeten, aus dem Vorgang Konsequenz...

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