Entscheidungsstichwort (Thema)
Unverhältnismäßiger Eingriff in langjährig erdiente Versorgungsanwartschaften durch ablösende Betriebsvereinbarung zur erstmaligen Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage der Arbeitgeberin. Zahlungsklage des Betriebsrentners bei unzureichenden Darlegungen der Arbeitgeberin zur gebotenen Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage bei der Anpassung der Betriebsrenten
Leitsatz (amtlich)
1. Greift eine neue Betriebsvereinbarung in Rechtspositionen aus einer bestehenden Betriebsvereinbarung zu Betriebsrenten ein, sind die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit zu beachten.
2. Der Zweck von Regelungen, die eine Ruhegelderhöhung entsprechend der Entwicklung der Gehaltstarife vorsehen (entgeltabhängige Dynamik), ist es, die Anpassung der Betriebsrenten an den allgemeinen Lebensstandard zu gewährleisten. Soweit für eine solche entgeltabhängige Dynamik Betriebstreue geleistet ist, ist sie schon erdient (nach BAG 17.04.1985 - 3 AZR 72/83 - juris).
3. Ein Eingriff in die "erdiente Dynamik" durch eine ablösende Betriebsvereinbarung, die bei der Anpassung der Betriebsrenten anders als die Vorgängerregelung eine Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage des Arbeitgebers ermöglicht, ist unverhältnismäßig und damit unzulässig, wenn die wirtschaftliche Situation des Unternehmens eine solche Änderung nicht als geboten erscheinen lässt.
Normenkette
BetrAVG §§ 16, 16 Abs. 1, 4 S. 2
Verfahrensgang
ArbG Hamburg (Entscheidung vom 03.02.2016; Aktenzeichen 14 Ca 218/15) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 3. Februar 2016 - Az. 14 Ca 218/15 - unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung wie folgt abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 71,81 brutto nebst 5%-Punkten Zinsen ab dem 23. Mai 2015 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, für die Erhöhung und Festsetzung der laufenden Ruhegeldbezüge jeweils die Steigerung der Gehaltstarife gemäß Ziffer 7 Abs. 1 der Betriebsvereinbarung Soziale Richtlinien (BV 75.14 in der Fassung ab dem 01.07.1986) zugrunde zu legen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über den Umfang der Anpassung der dem Kläger von der Beklagten gewährten Betriebsrente.
Der am ... 1947 geborene Kläger stand seit 1963 bis zum 30. April 2009 ununterbrochen in einem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin, der Hamburgische Electricitäts-Werke Aktiengesellschaft (im Folgenden: HEW).
Am 14./16. Juni 2000 vereinbarten die damaligen Tarifvertragsparteien, die Arbeitgebervereinigung Energiewirtschaftlicher Unternehmen e.V. und die Gewerkschaften IG Metall und DAG, einen neuen Manteltarifvertrag für die HEW (im Folgenden: MTV HEW, auszugsweise Anlage K 7, Bl. 18-19 d. A.). In diesem ist unter Ziffer II/D Nr. 5.3 geregelt, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die direkt aus dem Arbeitsverhältnis mit der HEW unter Bezug von Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung in den Ruhestand gehen, unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf betriebliche Altersversorgung haben. Am Ende heißt es:
"Einzelheiten, insbesondere Anspruchsvoraussetzungen, Zeitpunkt des Übertritt in den (vorzeitigen) Ruhestand, Höhe der Beiträge und Leistungen u.ä. werden - ebenso wie die Behandlung besonderer Personengruppen und Härtefälle - durch Betriebsvereinbarung geregelt werden. Änderungen werden nur nach Zustimmung der Tarifpartner wirksam."
Am 26. September 2003 vereinbarten die im Konzern Vattenfall Europa vertretenen Gewerkschaften IG BCE, ver.di (als Nachfolgerin der DAG) und IG Metall die Bildung einer Tarifgemeinschaft und die Zusammenarbeit im Rahmen der Verhandlungen über ein Konzerntarifwerk (Anlage B 1, Bl. 34-35 d. A.). Die Verhandlungen der Tarifgemeinschaft führten am 20. November 2006 zum Zustandekommen eines Konzerntarifwerks, das von allen drei Gewerkschaften unterschrieben wurde. Nach Abschluss des Konzerntarifwerks wurden die regionalen Tarifverträge der einzelnen Gesellschaften, u.a. der HEW, auf den Konzerntarifvertrag übergeleitet. Der neue, von der Tarifgemeinschaft abgeschlossene MTV vom 20. November 2006 (im Folgenden: MTV 2006, Anlage K 10, Bl. 55-75 d. A.) enthält in Ziffer VII § 36 Abs. 1 Satz 3 die Regelung, dass für die bis zum 31. Dezember 2006 eingestellten Arbeitnehmer die bisherigen Versorgungssysteme weiter gelten. In § 37 MTV 2006 (Anlage K 10, Bl. 73-74 d. A.) ist eine zweistufige sechsmonatige Ausschlussfrist für alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis enthalten.
Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem GdB von 50 anerkannt (siehe den Schwerbehindertenausweis vom 13. September 2005 in der Anlage BK 1, Bl. 150 d.A.). Nachdem er am ... 2009 das 62. Lebensjahr vollendet hatte, schied er zum 30. April 2009 aus dem aktiven Arbeitsverhältnis aus und bezieht seit dem 1. Mai 2009 eine gesetzliche Soz...