Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung des Verfahrens bei echter Vorgreiflichkeit. Keine Vorgreiflichkeit bei betriebsverfassungsrechtlichen Verfahren nach § 18 und § 19 BetrVG. Wesensmerkmale einer Gewerkschaft. Verzicht auf Wahlanfechtung nach § 19 BetrVG und auf das Verfahren bezüglich einer betriebsratsfähigen Organisationseinheit nach § 18 Abs. 2 BetrVG. Schiedsvereinbarung zur Abgrenzung gewerkschaftlicher Organisationsbereiche
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Beschlussverfahren ist auszusetzen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits davon abhängt, ob eine Vereinigung tariffähig ist oder ob deren Tarifzuständigkeit gegeben ist. Es handelt sich hierbei um einen Fall echter Vorgreiflichkeit, d.h. nur dann, wenn es zur Entscheidung des Rechtsstreits auf die Fragen der Tariffähigkeit oder der Tarifzuständigkeit ankommt, kommt eine Aussetzung in Betracht.
2. Eine Vorgreiflichkeit ist im Bereich der betriebsverfassungsrechtlichen Verfahren nach § 19 BetrVG wie auch nach § 18 BetrVG nicht gegeben, weil es auf die Tarifzuständigkeit oder die Tariffähigkeit nicht ankommt. Aus dem Gesetzeswortlaut folgt grundsätzlich, dass es für die Antragsbefugnis in den arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren, gestützt auf §§ 18, 19 BetrVG, auf das "Vertretensein" im Betrieb ankommt.
3. Wenn eine Vereinigung aufgrund ihrer Mitgliederzahl sowie des Umstands, dass sie maßgebliche, auch für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge abgeschlossen hat, auch zur Organisation von Arbeitskämpfen aufgrund ihrer Mächtigkeit in der Lage ist, muss ihr die Gewerkschaftseigenschaft zuerkannt werden.
4. Das Recht, Wahlanfechtungen nach § 19 BetrVG und Wahlnichtigkeitsfeststellungen gerichtlich geltend zu machen wie auch Verfahren nach § 18 Abs. 2 BetrVG zu führen, ist verzichtbar. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschriften, die mit den Worten "kann" bzw. "können" den Berechtigten eine Ermessensentscheidung eröffnen.
5. Mit einer Schiedsvereinbarung zur Abgrenzung des Tätigwerdens der Gewerkschaft ver.di und einer anderen Gewerkschaft in einem Betrieb wird sichergestellt, dass dem sich aus der Satzung des DGB ergebenden Grundsatz "ein Betrieb, eine Gewerkschaft" Rechnung getragen wird.
Normenkette
BetrVG § 19 Abs. 2, § 18 Abs. 2; ArbGG § 97
Verfahrensgang
ArbG Bochum (Entscheidung vom 05.09.2022; Aktenzeichen 4 BV 10/22) |
Tenor
1. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Bochum vom 05.09.2022 - 4 BV 10/22 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Anträge der Antragstellerin abgewiesen werden.
2. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
A.
Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer am 29.03.2022 im Betrieb der zu 3. beteiligten Arbeitgeberin für die Bereiche Verwaltung, Café, Kiosk und Hausmeister durchgeführten Betriebsratswahl, über die Feststellung einer betriebsratsfähigen Organisationseinheit sowie über die Einsicht in Wahlakten.
Antragstellerin ist die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU; im Folgenden: Antragstellerin), die nach ihrem Vortrag im Betrieb der zu 3. beteiligten Arbeitgeberin Mitglieder hat. Der Beteiligte zu 2. ist der aus der Wahl vom 29.03.2022 für die Bereiche Verwaltung, Café, Kiosk und Hausmeister hervorgegangene Betriebsrat.
Die zu 3. beteiligte Arbeitgeberin ist eine 100%ige Tochtergesellschaft der A-Gesetzliche Unfallversicherung GmbH. Bis zu einer gesellschaftsrechtlichen Umorganisation im Jahre 2021 teilten sich die Geschäftsbereiche der zu 3. beteiligten Arbeitgeberin auf verschiedene Rechtsträger auf, namentlich die Wi-Med C Hauswirtschaft GmbH, die XXX C Reinigung GmbH und die Beteiligte zu 3.. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer waren ausschließlich in der Wi-Med C Hauswirtschaft GmbH sowie der XXX C Reinigung GmbH beschäftigt. Für den ehemals unternehmerisch selbstständigen Geschäftsbereich Reinigung und Hauswirtschaft war seit dem Jahre 2002 regelmäßig ein Betriebsrat gewählt worden; für den ehemals ebenfalls unternehmerisch selbstständigen Betrieb Verwaltung, Café, Kiosk und Hausmeister fand eine solche Betriebsratswahl erstmals im Jahre 2016 statt.
Das Organisationsrecht der Antragstellerin ist jeweils durch Satzungen geregelt worden, die auf ordentlichen Gewerkschaftstagen beschlossen wurden. Zum Zeitpunkt der hier streitgegenständlichen Betriebsratswahl war die "Berliner Satzung 2017" in Kraft; soweit von Interesse, ist durch die aktuelle "Kasseler Satzung 2022" keine Veränderung eingetreten.
§ 2 der "Berliner Satzung 2017" bestimmt unter anderem, dass die Antragstellerin zuständig ist für den Wirtschafts- und Verwaltungszweig "Gebäudemanagement". Darüber hinaus bestimmt § 2 Ziffer 2 der "Berliner Satzung 2017", dass näheres durch den Organisationskatalog bestimmt wird. Dieser Organisationskatalog ist als Anlage 1 zur "Berliner Satzung 2017" aufgeführt, dessen Ziffer 2.e) "Gebäudemanagement" unter anderem die Zuständigkeit für die Bereiche Gebäude-, Industrie- und Städtereinigung beschreibt.
Darüber hinaus bestimmt § 2 Ziffer 4 der...