Entscheidungsstichwort (Thema)
Interessenausgleich mit Namensliste. soziale Auswahl nach Altersgruppen. Verkennung des Betriebsbegriffs
Leitsatz (amtlich)
1. Aus europarechtlichen Gründen bestehen Zweifel, ob der Auffassung des BAG (06.11.2008 – 2 AZR 523/07), die Bildung von Altersgruppen gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG sei nach den §§ 10 Satz 1, 2 AGG durch legitime Ziele (Wettbewerbsinteressen eines einzelnen Unternehmens) gerechtfertigt, gefolgt werden kann (vgl. EuGH vom 05.03.2009 – C-388/07 Age Concern England m.Anm. von Roetteken jurisPR-ArbR 22/2009 Anm. 1). Ein fehlerhaft durchgeführtes Auswahlverfahren führt nicht zur Sozialwidrigkeit der Kündigung, wenn die soziale Auswahl im Ergebnis den Anforderungen des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genügt.
2. Die bei Vorliegen eines Interessenausgleichs mit Namensliste gemäß § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG auf grobe Fehlerhaftigkeit beschränkte Überprüfung der sozialen Auswahl gilt auch für die Frage, ob Arbeitnehmer einer anderen Betriebsstätte in die soziale Auswahl einzubeziehen sind. Die Betriebsparten schöpfen den ihnen eingeräumten Spielraum aus und handeln nicht grob fehlerhaft, wenn sie die soziale Auswahl auf die Beschäftigten des Betriebes beschränken, für den der Betriebsrat gewählt worden ist (hier: Verkennung eines in Wirklichkeit bestehenden Gemeinschaftsbetriebes, wenn für verschiedene Betriebsstätten jeweils eigenständige Betriebsräte gewählt worden sind).
Normenkette
RL 2000/78/EG Art. 6 Abs. 1; BetrVG § 1 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 Sätze 1-2, Abs. 5 Sätze 1-2; KSchG § 1 Abs. 4; BetrVG § 102 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Rheine (Urteil vom 13.01.2009; Aktenzeichen 3 Ca 1399/08) |
Nachgehend
BAG (Aktenzeichen 6 AZN 377/10) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Rheine vom 13.01.2009 – 3 Ca 1399/08 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um den Bestand des Arbeitsverhältnisses.
Der am 09.08.1964 geborene Kläger, der verheiratet ist und zwei Kinder hat, war bei der in R2 ansässigen Firma K2-R2 GmbH & Co. KG seit dem 01.08.1983 zunächst als Lagerarbeiter und seit dem 01.03.2002 als Vorarbeiter in der Materialwirtschaft gegen eine Vergütung von zuletzt 3.105,81 EUR brutto monatlich tätig.
Die K2-R2 GmbH & Co. KG kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger auf der Grundlage eines mit dem Betriebsrat vereinbarten Interessenausgleichs mit Namensliste vom 13.08.2008 am 25.08.2008 fristgemäß zum 31.03.2009 aus betriebsbedingten Gründen. Nach dem Inhalt des Interessenausgleichs sind Entlassungen von 805 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorgesehen. Nach Ausspruch der Kündigungen sollen mit dem Planziel ab 01.04.2009 nur noch 104 Arbeitnehmer weiterbeschäftigt werden.
Der Interessenausgleich mit Namensliste, auf der sich auch der Name des Klägers befindet, ist nach langen und umfangreichen Verhandlungen in der Weise zustande gekommen, dass Interessenausgleich und Namensliste getrennt erstellt, von den Betriebsparteien paraphiert und unterschrieben und sodann zu einer festen Verbindung zusammengefügt worden sind.
Bezüglich der sozialen Auswahl vereinbarten die Betriebsparteien mit dem Stichtag 30.06.2008 nach folgenden Altersgruppen vorzugehen:
Altersgruppe 1 bis zum vollendeten 25. Lebensjahr = 0 Mitarbeiter
Altersgruppe 2 bis zum vollendeten 35. Lebensjahr = 128 Mitarbeiter = 14 %
Altersgruppe 3 bis zum vollendeten 45. Lebensjahr = 265 Mitarbeiter = 29 %
Altersgruppe 4 bis zum vollendeten 55. Lebensjahr = 419 Mitarbeiter = 46 %
Altersgruppe 5 älter als 55 Jahre = 97 Mitarbeiter = 11 %
Der Altersdurchschnitt der zum Stichtag beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lag bei 44,65 Jahre. Er hätte sich ohne Altersgruppenbildung auf 48 Jahre erhöht. Die nach Altersgruppen durchgeführte soziale Auswahl führt zu einem Durchschnittsalter von 45,3 Jahren der 104 verbleibenden Arbeitnehmer.
Im Rahmen der Vergleichsgruppenbildung haben die Betriebsparteien Vergleichsgruppen nach den Planstellen gebildet, die in dem Restbetrieb fortbestehen sollten. Der Kläger wurde der Vergleichsgruppe L 7 Vorarbeiter Materialwirtschaft zugeordnet. Von den dort ursprünglich eingesetzten 14 Arbeitnehmern werden zwei Arbeitnehmer weiterbeschäftigt, nämlich die Mitarbeiter K4 und S4. Herr S4 ist 56 Jahre alt und seit dem 18.07.1983 tätig. Der Mitarbeiter K4 ist 57 Jahre alt und seit 1969 tätig.
Die Betriebsparteien vereinbarten in dem Interessenausgleich vom 13.08.2008 folgende Auswahlrichtlinien über die Gewichtung der sozialen Daten:
„Kriterien |
Punkte |
1. Lebensalter für jeden vollende Jahr nach dem 18. Lebensjahr |
1,0 Punkte |
je Lebensjahr |
|
2. Dauer der für jedes vollendete Betriebszugehörigkeit Beschäftigungsjahr |
1,5 Punkte |
3. Unterhaltspflichten Ehegatte/eingetragener Lebenspartner |
5,0 Punkte |
je Kind (nachweisbar) |
7,0 Punkte |
4. Schwerbehinderte und Gleichgestellte |
10,0 Punkte” |
Danach erreichen der weiterbeschäftigte Mitarbeiter K4 96 Punkte, der Mitarbeiter S4 79 Punkte und der Kläger 80 Punkte.
Der Kläger meint, die Vorauss...