Baldige Rente darf bei Sozialauswahl berücksichtigt werden
Wenn im Unternehmen betriebsbedingt Entlassungen anstehen, muss der Arbeitgeber eine Sozialauswahl treffen. Es soll den Beschäftigten gekündigt werden, die sozial am wenigsten betroffen sind. Bei der Auswahl werden üblicherweise Sozialpunkte vergeben für die Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten oder Schwerbehinderung. Daraus folgt, dass in der Regel von einer betriebsbedingten Kündigung eher junge, unverheiratete und gesunde Mitarbeitende betroffen sind, die noch nicht lange im Unternehmen beschäftigt sind. Einen ganz neuen Aspekt hat das BAG nun in einer aktuellen Entscheidung eröffnet: Danach ist das Kriterium Lebensalter ambivalent. Es darf nicht nur zugunsten, sondern bei rentennahen Jahrgängen auch zu Lasten älterer Mitarbeiter berücksichtigt werden.
Betriebsbedingte Kündigung: Wegen Rentennähe wenig schutzwürdig?
Die Arbeitnehmerin, Jahrgang 1957, war seit 1972 im Unternehmen beschäftigt. Nachdem dieses Insolvenz anmelden musste, gab es einen ersten Interessensausgleich zwischen Insolvenzverwalter und dem Betriebsrat. Dieser sah die Kündigung von 61 der insgesamt 396 Beschäftigten vor. Auf der Namensliste fand sich auch der Name der zu dieser Zeit 63 Jahre alten Arbeitnehmerin.
Der Insolvenzverwalter kündigte ihr erstmalig Ende März 2020. Aus Sicht der Arbeitnehmerin war die Kündigung unwirksam. Sie meinte, dass ein jüngerer (1986 geboren) und erst seit 2012 beschäftigter Kollege sozial viel weniger schutzwürdig sei als sie. Der Insolvenzverwalter vertrat dagegen die Überzeugung, dass sie - in ihrer Vergleichsgruppe - sozial am wenigsten schutzwürdig sei. Als Einzige habe sie die Möglichkeit, ab 1. Dezember 2020 und damit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte zu beziehen. Damit falle sie hinter alle anderen vergleichbaren Arbeitnehmenden zurück.
Ältere Arbeitnehmerin klagt gegen betriebsbedingte Kündigungen
Zu einer zweiten Kündigung kam es nach erneuten Verhandlungen mit dem Betriebsrat. Der Insolvenzverwalter verhandelte mit dem Gremium Ende Juni 2020 wegen der nunmehr beabsichtigten Betriebsstilllegung einen zweiten Interessenausgleich. Auf der Namensliste war die Arbeitnehmerin wieder aufgeführt. Der Insolvenzverwalter kündigte ihr daraufhin Ende Juni 2020 vorsorglich erneut. Auch gegen die zweite Kündigung erhob die Arbeitnehmerin Kündigungsschutzklage.
BAG: Rentennähe darf bei Sozialauswahl berücksichtigt werden
Das Bundesarbeitsgericht entschied, dass die erste Kündigung der Arbeitnehmerin von Ende März 2020 im Ergebnis unwirksam war. Allerdings wies das Gericht darauf hin, dass die Sozialauswahl insofern richtig erfolgte, als dass die Rentennähe der Arbeitnehmerin bei der Sozialauswahl im Hinblick auf das Kriterium "Lebensalter" berücksichtigt werden durfte. Sinn und Zweck der sozialen Auswahl sei es, stellte das BAG fest, unter Berücksichtigung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig ist.
Alter schützt nicht vor Kündigung
Das Auswahlkriterium "Lebensalter" dient dabei nicht allein dem Schutz älterer Beschäftigter, verdeutlichte das oberste Arbeitsgericht. Vielmehr sei es als Merkmal ambivalent. Zwar nehme die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil ältere Beschäftigte nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben.
Sie fällt nach Meinung des BAG aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmende entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen durch eine abschlagsfreie Altersrente verfügen kann oder bereits verfügt. Altersrenten für schwerbehinderte Menschen gemäß §§ 37, 236 a SGB VI nahm das Bundesarbeitsgericht davon explizit aus. Arbeitgeber dürften bei dem Auswahlkriterium "Lebensalter" diese Umstände zum Nachteil des Arbeitnehmenden berücksichtigen. Insoweit billigten ihnen die Vorgaben zur Sozialauswahl einen Wertungsspielraum zu.
Sozialauswahl allein aufgrund der Rentennähe ist fehlerhaft
Die erste Kündigung von Ende März 2020 war im Ergebnis dennoch unwirksam, so das Bundesarbeitsgericht. Die Arbeitnehmerin sei unzulässigerweise allein wegen ihrer Rentennähe ausgewählt worden. Völlig außer Acht gelassen habe der Insolvenzverwalter dagegen die anderen Auswahlkriterien "Betriebszugehörigkeit" und "Unterhaltspflichten", weshalb die Sozialauswahl grob fehlerhaft war. Anders dagegen die vorsorgliche Kündigung von Ende Juni 2020: Sie war wirksam, entschied das BAG. Damit endete das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 30. September 2020.
Hinweis: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 8. Dezember 2022, Az: 6 AZR 31/22; Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 3. September 2021, Az: 16 Sa 152/21
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