Entscheidungsstichwort (Thema)

Persönlicher Geltungsbereich des Beschäftigungsverbots nach § 20a IfSG a.F.. Anordnung eines Betretungsverbots der Einrichtung durch das Gesundheitsamt nach § 20a Abs. 5 IfSG a.F.. Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen. Weisung kraft Direktionsrechts und Überschreitung der Grenzen billigen Ermessens. Annahmeverzug des Arbeitgebers wegen unzulässiger Freistellung des Arbeitnehmers von der Arbeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. 20a IfSG a.F. ordnet ein Beschäftigungsverbot nur für die in § 21 Abs. 3 Satz 1 IfSG genannten Personen an. Dies sind Personen, die in den in § 21 Abs. 1 Satz 1 IfSG genannten Einrichtungen ab dem 16.03.2022 tätig werden sollen.

2. Für "Bestandsmitarbeiter", die schon vor dem 16.03.2022 in den Einrichtungen tätig waren, besteht nach § 20a IfSG kein gesetzliches Tätigkeitsverbot. Bei Nichterfüllung der Vorlagepflicht aus § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG hat die Einrichtungsleitung gemäß § 20a Abs. 2 Satz 2 IfSG das Gesundheitsamt zu informieren. Das Gesundheitsamt kann unter den Voraussetzungen des § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG gegenüber den Arbeitnehmern ein Betretungsverbot für die Einrichtung aussprechen.

3. Die Entscheidung des Arbeitgebers, nur noch geimpfte Mitarbeiter zu beschäftigen und ungeimpfte Arbeitnehmer freizustellen, sofern sie nach § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG keinen Genesenennachweis oder ein Zeugnis über Schwangerschaft bzw. Impfunverträglichkeit vorlegen, kann die Grenzen des billigen Ermessens gemäß § 106 GewO überschreiten. Dabei ist insbesondere von Belang, ob die berechtigten Interessen des Arbeitgebers durch mildere Maßnahmen wie Corona-Tests und das Tragen von Schutzmasken gewahrt werden können.

4. Den unrechtmäßigerweise freigestellten ungeimpften Arbeitnehmern kann ein Anspruch auf Entgeltzahlung aus § 615 Satz 1 BGB zustehen (im Streitfall bejaht).

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen verlangt eine Abwägung der wechselseitigen Interessen nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen, den allgemeinen Wertungsgrundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit.

 

Normenkette

IfSG § 20a a.F.; GewO § 106; BGB § 615; GG Art. 2 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1; IfSG § 21 Abs. 3 S. 1 a.F.; BGB § 612a; EFZG § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Bocholt (Entscheidung vom 28.07.2022; Aktenzeichen 4 Ca 308-22)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bocholt vom 28.07.2022 - 4 Ca 308/22 wie folgt abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 15.728,00 Euro brutto abzüglich gezahlter 1.187,18 Euro netto und abzüglich auf das Jobcenter übergegangener 4.719,05 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16.07.2022 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Berufung wird im Übrigen zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin zu 1/4 und die Beklagte zu 3/4.

Die Revision für die Beklagte wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz über Ansprüche der Klägerin auf Entgeltzahlung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges. Hintergrund des Streites ist, dass die ungeimpfte Klägerin seit dem 16.03.2022 von der Erbringung ihrer Arbeitsleistung freigestellt wurde.

Die Beklagte betreibt eine Einrichtung mit mehreren Standorten, u.a. in A, in denen sie Maßnahmen der Berufsvorbereitung, Ausbildung und Umschulung für behinderte Menschen sowie Sprachkurse und politische Bildungsmaßnahmen durchführt. Lernbeeinträchtigte Jugendliche werden der Beklagten zur Ausbildung und Berufungsvorbereitung von der Arbeitsagentur nach § 51 SGB IX zugewiesen. Im März 2022 waren am Standort in A 16 junge behinderte Menschen untergebracht, die an einer Berufsvorbereitungsmaßnahme teilnahmen; weitere 31 junge behinderte Menschen waren dort im Rahmen ihrer Erstausbildung untergebracht. Die Beklagte beschäftigt insgesamt etwa 350 Arbeitnehmer.

Die Klägerin ist seit März 2018 für die Beklagte als pädagogische Mitarbeiterin tätig. Sie bezog vor ihrer Freistellung eine monatliche Vergütung in Höhe von 3.145,60 Euro brutto.

Die Klägerin arbeitete als Berufseinstiegsbegleiterin und betreute Schüler an der Gesamtschule in C. Diese Beratungs- und Betreuungstätigkeit übte die Klägerin in den Räumlichkeiten der Gesamtschule C aus. Daneben war die Klägerin auch in der Einrichtung tätig, die die Beklagte am Standort A führt. Dort war für sie ein Arbeitsplatz eingerichtet. Nach den Angaben der Beklagten arbeitete sie zu 1/3 der Arbeitszeit an diesem Büroarbeitsplatz und zu 2/3 der Arbeitszeit an der Gesamtschule in C. Arbeitskollegen der Klägerin, die ebenfalls als Berufseinstiegsbegleiter für die Beklagte tätig sind, verbringen wie die Klägerin einen Teil ihrer Arbeitszeit in der Einrichtung in A. Die Berufseinstiegsbegleiter nehmen dort arbeitsvorbereitende Tätigkeiten wahr; sie nehmen ferner an Teambesprechungen und Konferenzen mit der Kreishandwerkerschaft Borken teil. Die Berufs...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge