Entscheidungsstichwort (Thema)
Zugang einer schriftlichen Willenserklärung unter Abwesenden. Zweistufige Prüfung des wichtigen Grundes bei einer fristlosen Kündigung. Ultima Ratio-Prinzip bei der außerordentlichen Kündigung. Beharrliche Arbeitsverweigerung als wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung. Zurückbehaltungsrecht aus dem Synallagma des arbeitsrechtlichen Schuldverhältnisses. Erforderlichkeit einer Abmahnung vor einer verhaltensbedingten Kündgung. Entbehrlichkeit einer Abmahnung bei gravierenden Störungen des Arbeitsverhältnisses. Gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine schriftliche Willenserklärung geht unter Abwesenden nach § 130 Abs. 1 BGB zu, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers bzw. eines empfangsberechtigten Dritten gelangt ist und für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von dem Inhalt des Schreibens Kenntnis zu nehmen. Wenn für den Empfänger diese Möglichkeit unter gewöhnlichen Verhältnissen besteht, ist es unerheblich, wann er die Erklärung tatsächlich zur Kenntnis genommen hat oder ob er daran z.B. durch Krankheit, zeitweilige Abwesenheit oder andere besondere Umstände zunächst gehindert war (BAG 16.03.1988, EzA BGB § 130 Nr.16; BAG 02.03.1989, EzA BGB § 130 Nr. 22; BAG 22.03.2012, EzA KSchG § 5 Nr.41; BAG 25.04.2018, 2 AZR 493/17). Ob die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist dabei nach den "gewöhnlichen Verhältnissen" und den "Gepflogenheiten des Verkehrs" zu beurteilen (BAG 08.12.1983, EzA BGB § 130 Nr.13; BAG 22.03.2012, aaO; BAG, 25.04.2018, aaO). Ein Kündigungsschreiben gelangt mit dem Einwurf in den Wohnungsbriefkasten in verkehrsüblicher Art in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Arbeitnehmers (BAG 02.03.1989, EzA BGB § 130 Nr. 22). Denn in erster Linie zählt die Wohnung zum Machtbereich des Empfängers einer schriftlichen Willenserklärung, solange er sie nicht aufgegeben hat. Der Einwurf in einen Briefkasten bewirkt den Zugang zu einem Zeitpunkt, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme zu rechnen ist (vgl. BAG 08.12.1983, aaO), wobei nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfängers abzustellen, sondern dies im Interesse der Rechtssicherheit zu generalisieren ist (BAG 22.03.2012, aaO unter Verweis auf BGH 21.012004, EzA BGB 2002 § 130 Nr.3; BAG, 25.04.2018, aaO). Bei Hausbriefkästen ist daher mit einer Leerung im Allgemeinen zum Zeitpunkt der üblichen Postzustellzeiten zu rechnen, die allerdings stark variieren können (BAG 22.03.2012, aaO).
2. Nach § 626 Abs. 1 BGB ist bei allen Kündigungsgründen eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und eine Abwägung der Interessen beider Vertragsteile erforderlich. Dieses Erfordernis schließt es aus, bestimmte Tatsachen ohne Rücksicht auf die Besonderheit des Einzelfalles stets als wichtigen Grund zur Kündigung anzuerkennen; es gibt im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB keine absoluten Kündigungsgründe (BAG 23.01.1963, EzA GewO § 124a Nr. 3 ). Die Prüfung des Vorliegens eines wichtigen Grundes hat daher in zwei systematisch zu trennenden Abschnitten zu erfolgen: Vorrangig ist zu prüfen, ob ein bestimmter Grund an sich geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Sofern dies bejaht wird, bedarf es nach § 626 Abs. 1 BGB des Weiteren der Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles und der Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist oder nicht (BAG 17.05.1984, EzA BGB § 626 n.F. Nr.90, BAG 13.12.1984, EzA BGB § 626 n.F. Nr.94).
3. Ein Umstand ist in der Regel nur dann geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen, wenn er sich konkret auf das Arbeitsverhältnis auswirkt. Die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses muss durch objektive Umstände, die Einstellung oder das Verhalten des Gekündigten im Leistungsbereich, im Bereich der betrieblichen Verbundenheit, im Vertrauensbereich der Vertragsparteien oder im Unternehmensbereich beeinträchtigt sein (BAG 06.02.1969, EzA BGB § 626 Nr. 11; BAG 20.09.1984, EzA BGB § 626 n.F. Nr. 91). Eine außerordentliche Kündigung kommt dabei nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Als solche milderen Reaktionen sind insbesondere Abmahnung und Ausspruch einer ordentlichen Kündigung anzusehen (BAG 24.03.2011, EzA BGB 2002 § 626 Nr.34).
4. In Rechtsprechung und Literatur ist allgemein anerkannt, dass eine beharrliche Arbeitsverweigerung je nach den Umständen des Einzelfalls geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen: Die beharrliche Weigerung des Arbeitnehmers, eine vertraglich geschuldete, rechtmäßig und damit wirksam zugewiesene Arbeit zu leisten, stellt regelmäßig eine erhebliche Pflichtverletzung dar. Weigert sich der Arbeitnehmer, die ihm im Rahmen einer rechtmäßigen Ausübung des Weis...