Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Anhörung des Betriebsrats vor einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung
Leitsatz (redaktionell)
1. Auch bei Vorliegen eines Interessenausgleichs und selbst bei Vereinbarung einer Namensliste ist der Arbeitgeber verpflichtet, den Betriebsrat gem. § 102 BetrVG zu einer beabsichtigten Kündigung anzuhören. Allerdings muss der Arbeitgeber die dem Wegfall des Beschäftigungsbedürfnisses und der Sozialauswahl zugrunde liegenden Tatsachen, die dem Betriebsrat bereits aus den Verhandlungen zum Abschluss eines Interessenausgleichs bekannt sind, im Anhörungsverfahren nicht erneut mitteilen.
2. Das Verfahren nach § 102 BetrVG kann mit den Verhandlungen über den Interessenausgleich verbunden werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass in den Verhandlungen mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich (mit Namensliste) zugleich die Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG zu sehen ist. Vielmehr ist stets erforderlich, dass der Betriebsrat um die Stellungnahme zu einer konkreten Kündigung ersucht wird.
3. Allein durch die Vorlage des Entwurfs eines Interessenausgleichs wird die Frist zur Stellungnahme durch den Betriebsrat gem. § 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG nicht in Gang gesetzt. Der Betriebsrat ist auch nicht verpflichtet zur Nachfrage, ob durch die Vorlage des Entwurfs eines Interessenausgleichs die Frist in Gang gesetzt werden sollte.
Normenkette
BetrVG § 102; KSchG § 17; BetrVG §§ 111-112, 102 Abs. 1-2
Verfahrensgang
ArbG Hagen (Westfalen) (Entscheidung vom 16.07.2019; Aktenzeichen 4 Ca 425/19) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 16.07.2019 - Aktenzeichen 4 Ca 425/19 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, betriebsbedingten Kündigung.
Der 53 Jahre alte, verheiratete Kläger, ist seit dem 02.01.1992 bei der Beklagten als Produktionshelfer beschäftigt. Er erzielt eine durchschnittliche Vergütung in Höhe von 4.606,73 Euro brutto monatlich.
Die Beklagte ist ein Zulieferungsbetrieb für Automobilhersteller. Sie beschäftigt ständig mehr als 10 Arbeitnehmer. Ein Betriebsrat ist gewählt.
Hauptauftraggeberin der Beklagten war bis 31.03.2019 die W-Gruppe. Für diese entwickelte und produzierte die Beklagte eine besonders leichte Hintersitzlehnenstruktur ebenso wie spezielle Sitzwannen. Ca. 75 % der Produktionsmitarbeiter waren mit Aufträgen für die W-Gruppe beschäftigt, ebenso betrugen die mit ihr erzielten Umsätze mehr als 75 % der Gesamtumsätze der Beklagten. Die W-Gruppe hatte zum 31.03.2019 ihre gesamte Kundenbeziehung zur Beklagten gekündigt. Ein gerichtliches Vorgehen der Beklagten gegen die W-Gruppe bezüglich eines späteren Ausstiegs bzw. einer Verschiebung des Kündigungstermins blieb erfolglos.
Aus diesem Grund lud die Beklagte den Betriebsrat und Wirtschaftsausschuss sowie die Schwerbehindertenvertretung zu einer ersten Information am 24.09.2018 ein. Mit Email vom 05.10.2018 übersandte sie dem Betriebsrat die Informationen betreffend die personellen Maßnahmen, über die im Interessenausgleich verhandelt werden sollte. Es wurde ein Entwurf eines Interessenausgleichs mit 3 Anlagen (Organigramm alt, Organigramm neu und Maßnahmenliste) für weitere Verhandlungen übersandt.
Am 16.10.2018 fand diesbezüglich eine Sitzung statt. Nachdem ein neuer Verhandlungstermin nicht gefunden werden konnte, leitete die Beklagte am 18.10.2018 ein Einigungsstelleneinsetzungsverfahren ein. Mit Beschluss des Arbeitsgerichts Hagen vom 02.11.2018 (Az.: 2 BV 19/18) wurde die Einigungsstelle eingesetzt, die hiergegen seitens des Betriebsrats eingelegte Beschwerde wurde am 07.12.2018 durch das Landesarbeitsgericht Hamm (Az.: 13 TaBV 80/18) zurückgewiesen.
Außerhalb des Einigungsstellenverfahrens fand am 22.10.2018 eine weitere Verhandlung zwischen der Beklagten und dem Betriebsrat statt, anlässlich derer diesem Änderungen mitgeteilt wurden. Zudem verhandelten die Betriebsparteien am 07.11.2018 und 22.11.2018 ergebnislos. Am 02.11.2018 ließ die Beklagte dem Betriebsrat zudem das Schreiben "Unterrichtung nach § 17 KSchG" nebst Anlagen (erneut Entwurf Interessenausgleich und Sozialplan, Maßnahmenliste) zukommen und wies auf die Notwendigkeit zum Ausspruch der Kündigungen noch im November hin.
Am 15.01.2019 sowie 24.01.2019 tagte die Einigungsstelle unter dem Vorsitz des Einigungsstellenvorsitzenden sowohl zum Interessenausgleich als auch Sozialplan. In diesem Zusammenhang hatte die Beklagte dem Betriebsrat mit Anschreiben vom 11.01.2019 die Verhandlungsunterlagen zum damaligen Verhandlungsstand zukommen lassen, wobei die Einzelheiten des Zugangs hier zwischen den Parteien streitig sind. Der hierbei überreichte Entwurf vom 11.01.2019 enthält unter der Ziffer III. 5 folgende Regelung:
"5. Kündigungsanhörungen
Die Arbeitgeberin hat gegenüber dem Betriebsrat die Anhörungsverfahren zu den beabsichtigten Kündigungen der betroffenen Arbeitnehmer, die in der Maßnahmeliste (Anlag...