Entscheidungsstichwort (Thema)

Benachteiligung durch Abfindungsregelung eines Sozialtarifvertrages zu vorzeitigem Renteneintritt. Zahlungsklage eines schwerbehinderten Arbeitnehmers auf erhöhten Abfindungsbetrag

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG gelten die Benachteiligungsverbote der §§ 1, 7 AGG auch für kollektivrechtliche Vereinbarungen und damit auch für Sozialtarifverträge und für Sozialpläne nach dem Betriebsverfassungsgesetz; der durch die Tarifautonomie geschützte Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien findet seine Grenzen in entgegenstehendem zwingenden Gesetzesrecht, wozu auch die einfachrechtlichen Diskriminierungsverbote des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes gehören.

2. Die Parteien eines Sozialplans haben wie bei anderen Betriebsvereinbarungen gemäß § 75 Abs. 1 BetrVG darüber zu wachen, dass jede Benachteiligung von Personen aus den in der Vorschrift genannten Gründen unterbleibt; der in § 75 Abs. 1 BetrVG enthaltene Begriff der Benachteiligung und die Rechtsmäßigkeit einer unterschiedlichen Behandlung richten sich nach den Vorschriften des AGG.

3. Eine mittelbar auf dem Merkmal der Behinderung beruhende Ungleichbehandlung liegt vor, wenn eine Sozialplanregelung vorsieht, dass einem schwerbehinderten Arbeitnehmer bei Entlassung wegen der Möglichkeit eines früheren Renteneintritts ein geringerer Abfindungsbetrag zu zahlen ist als einem nicht behinderten Arbeitnehmer, ohne dass der niedrigere Abfindungsanspruch durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zu seiner Erreichung angemessen und erforderlich sind (§§ 3 Abs. 2, 1, 7 Abs. 1, Abs. 2 AGG).

4. Aufgrund der mittelbaren Benachteiligung wegen seiner Schwerbehinderung hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Gewährung der Leistungen nach Maßgabe der Regelungen für die begünstigte Gruppe und damit nach den Regeln für nicht schwerbehinderte Beschäftigte der entsprechenden Altersgruppe; diese “Anpassung nach oben„ zugunsten der Gruppe der schwerbehinderten Beschäftigten ist kein rechtswidriger Eingriff in die Tarifautonomie.

 

Normenkette

AGG §§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 2, § 3 Abs. 2, § 7 Abs. 1-2; BetrVG § 75 Abs. 1; SGB VI § 236a Abs. 1 S. 2, Abs. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Bochum (Entscheidung vom 29.09.2015; Aktenzeichen 2 Ca 752/15)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 21.11.2017; Aktenzeichen 1 AZR 131/17)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des ArbG Bochum vom 29.09.2015 - 2 Ca 752/15 - wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass die Zahlungsverurteilung ohne den Zusatz "netto" erfolgt.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger beansprucht eine höhere Abfindung mit der Begründung, die Regelung zur Berechnung der Abfindung im Sozialtarifvertrag bzw. Sozialplan aus dem Jahr 2014 benachteilige ihn ungerechtfertigt wegen seiner Schwerbehinderung.

Der Kläger ist Mitglied der IG Metall. Mit Ablauf des 31.12.2014 schied er auf der Grundlage einer Aufhebungsvereinbarung vom 01.12.2014 aus betriebsbedingten Gründen aus dem langjährig bestehenden Arbeitsverhältnis zu der Beklagten aus (Ziffer 1 des Vertrags: "Aufgrund der Stilllegung des Werkes C zum 31.12.2014"). Der Vertrag (ohne Datum) weist in § 1 einen bezifferten "einmaligen Abfindungsbetrag" zugunsten des Klägers aus "als Ausgleich für den Verlust des Arbeitsplatzes nach Maßgabe der Ziffer C. 2.6 und 2.3a des Sozialtarifvertrages/ Sozialplans in entsprechender Anwendung der §§ 9, 10 KSchG, §§ 24, 34 EStG" (vollständige Kopie des Vertrags in der Gerichtsakte). Die individuellen Daten des Klägers dieses Rechtsstreits sind:

Geburtsdatum Kläger

...1952

GdB

50

Betriebszugehörigkeit seit

...1976

Bruttomonatsentgelt

3.093,80 €

Abfindung (Aufhebungsvereinbarung)

7.000,00 €

Renteneintritt bei Schwerbehinderung*

01.09.2012

Renteneintritt ohne Schwerbehinderung*

01.05.2015

Klageforderung: 4 Monate (1'2015-4'2015) x (1.439,66 € [= 80%ige Nettoabsicherung 1.872,51 € - 432,85 € OVK netto]+ 200,00 €)= 6.558,64 €

* Datenblatt / Bl. 6 GA

Auf das zur Akte gereichte Datenblatt zur Berechnung wird Bezug genommen (Bl. 6 GA).

Die Beklagte hatte im Jahr 2013 beschlossen, den Produktionsstandort in C zu schließen. Das Werk II sollte zum 31.10.2013 und das Werk I zum 31.12.2014 geschlossen werden. Nach Verhandlungen mit Betriebsrat und IG Metall wurde am 17.11.2013 von der Beklagten und der IG Metall ein Eckpunktepapier unterzeichnet, in dem es unter "V. Sozialplan / Transfergesellschaften" auszugsweise heißt (vollständige Kopie in der Gerichtsakte):

"(...)

Das Gesamtvolumen dieser Maßnahmen beträgt ausweislich dieser Anlage EUR 552 Mio. Das ist die absolute Obergrenze.

(...)"

Im Zuge der vollständigen Stilllegung des Betriebs in C schloss die Beklagte mit der IG-Metall, Bezirksleitung Nordrhein-Westfalen, einen Sozialtarifvertrag (STV), der am 12.06.2014 in Kraft trat (Sozialtarifvertrag zwischen der IG Metall - Bezirksleitung Nordrhein-Westfalen und der B P AG über die Schließung der Fahrzeugproduktion am Standort C vom 12.06.2014). Dort heißt es auszugswei...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge