Entscheidungsstichwort (Thema)
Beachtung der Diskriminierungsverbote des AGG in Sozialplänen. Mittelbare Benachteiligung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers in den Abfindungsregelungen eines Sozialplans. Anpassung "nach oben" bei Korrektur einer mittelbaren Diskriminierung
Leitsatz (amtlich)
Abfindung nach Sozialtarifvertrag / Sozialplan: Benachteiligung wegen Behinderung durch Abstellen auf Termin des frühestmöglichen Renteneintritts, Anspruch auf Abfindung wie nicht behinderter Arbeitnehmer ("Anpassung nach oben")
(im Anschluss an EuGH 06.12.2012 - C-152/11 - [Odar] und BAG 17.11.2015 - 1 AZR 938/13 -)
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Parteien eines Sozialplans haben wie bei anderen Betriebsvereinbarungen nach § 75 Abs. 1 BetrVG darüber zu wachen, dass jede Benachteiligung von Personen aus in der Vorschrift genannten Gründen unterbleibt. Der in § 75 Abs. 1 BetrVG enthaltene Begriff der Benachteiligung und die Zulässigkeit einer unterschiedlichen Behandlung richten sich nach den Vorschriften des AGG.
2. Nach der Entscheidung des EuGH vom 06.12.2012 (C-152/11 - Odar) ist eine mittelbare auf den Kriterien der Behinderung beruhende Ungleichbehandlung gegeben, wenn eine Regelung vorsieht, dass einem schwerbehinderten Arbeitnehmer bei Entlassung wegen der Möglichkeit eines früheren Rentenzugangs ein geringerer Abfindungsbetrag zu zahlen ist als einem nicht behinderten Arbeitnehmer.
3. Besteht die mittelbare Benachteiligung in einer Ausgrenzung des diskriminierten Arbeitnehmers aus dem Geltungsbereich einer vergleichbare Arbeitnehmer begünstigenden Regelung, ist regelmäßig auf die Angehörigen der durch die Diskriminierung benachteiligten Gruppe die gleiche Regelung wie auf die begünstigten Arbeitnehmer anzuwenden, um die Benachteiligung zu beseitigen. Dies führt regelmäßig zu einer Anpassung "nach oben".
Normenkette
AGG §§ 1, 3, 7; BetrVG § 75 Abs. 1, § 77 Abs. 4; SGB VI §§ 236, 236a; TVG § 4 Abs. 4
Verfahrensgang
ArbG Bochum (Entscheidung vom 20.11.2015; Aktenzeichen 4 Ca 613/15) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des ArbG Bochum vom 20.11.2015 - 4 Ca 613/15 - wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass die Zahlungsverurteilung ohne den Zusatz "netto" erfolgt.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger beansprucht eine höhere Abfindung mit der Begründung, die Regelung zur Berechnung der Abfindung im Sozialtarifvertrag / Sozialplan aus dem Jahr 2014 benachteilige ihn ungerechtfertigt wegen seiner Schwerbehinderung.
Der Kläger ist Mitglied der IG Metall. Mit Ablauf des 31.12.2014 schied er auf der Grundlage eines dreiseitigen Vertrags aus betriebsbedingten Gründen aus dem langjährig bestehenden Arbeitsverhältnis zu der Beklagten aus (Präambel des dreiseitigen Vertrags: "Aufgrund der Stilllegung des Werkes A zum 31.12.2014"). Der dreiseitige Vertrag aus August 2014 weist in § 1 einen bezifferten "einmaligen Abfindungsbetrag" zugunsten des Klägers aus "als Ausgleich für den Verlust des Arbeitsplatzes nach Maßgabe der Ziffer C. 2.6 und 2.3a des Sozialtarifvertrages/ Sozialplans in entsprechender Anwendung der §§ 9, 10 KSchG, §§ 24, 34 EStG" (vollständige Kopie des dreiseitigen Vertrags in der Gerichtsakte). Die individuellen Daten des Klägers dieses Rechtsstreits sind:
Geburtsdatum Kläger |
06.10.1958 |
GdB |
50 |
Betriebszugehörigkeit seit |
03.03.1987 |
Bruttomonatsentgelt |
3.162,00 € |
Abfindung (dreiseitiger Vertrag) |
52.870,58 € |
Renteneintritt bei Schwerbehinderung* |
01.11.2019 |
Renteneintritt ohne Schwerbehinderung* |
01.11.2021 |
Klageforderung: 36 Monate(11'2018-10'2021)x(1.556,42 € + 200,00 €)= 63.231,12 € abzgl. bereits berücksichtigter 21.077,04 € (s. Datenblatt) = 42.154,08 €
* frühestmöglicher Renteneintritt
Auf das zur Akte gereichte "Datenblatt zur Berechnung gemäß Sozialtarifvertrag 'C2.2.2.3a, 2.5 sowie 2.6. und 3.1.1'" wird Bezug genommen (Bl. 6 GA).
Die Beklagte hatte im Jahr 2013 beschlossen, den Produktionsstandort in A zu schließen. Das Werk II sollte zum 31.10.2013 und das Werk I zum 31.12.2014 geschlossen werden. Nach Verhandlungen mit Betriebsrat und IG Metall wurde am 17.11.2013 von der Beklagten und der IG Metall ein Eckpunktepapier unterzeichnet, in dem es unter "V. Sozialplan / Transfergesellschaften" auszugsweise heißt (vollständige Kopie in der Gerichtsakte):
"(...)
Das Gesamtvolumen dieser Maßnahmen beträgt ausweislich dieser Anlage EUR 552 Mio. Das ist die absolute Obergrenze.
(...)"
Im Zuge der vollständigen Stilllegung des Betriebs in A schloss die Beklagte mit der IG-Metall, Bezirksleitung Nordrhein-Westfalen, einen Sozialtarifvertrag (STV), der am 12.06.2014 in Kraft trat (Sozialtarifvertrag zwischen der IG Metall - Bezirksleitung Nordrhein-Westfalen und der B AG über die Schließung der Fahrzeugproduktion am Standort A vom 12.06.2014). Dort heißt es auszugsweise (vollständige Kopie in der Gerichtsakte):
"(...)
C. Sozialplan
1. Mobilitätsprämie bei Wechsel an einen anderen Standort
(...)
2. Arbeitnehmer der Jahrgänge 1949 bis 1959
2.1 Arbeitnehmer der Jahrgänge 1949 bis 1954
Arb...